Gottfried Keller: Zwei autobiographische Schriften. In: Nachgelassene Schriften und Dichtungen, S. 1 - 22 | |
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Herbigkeit Rousseaus angehaucht, obgleich nicht allzu stark. Es gibt Leute, welche fast alle möglichen Untugenden in blinder Kindheit anticipiren und wie Kinderkrankheiten ausschwitzen, während z. B. zu wetten ist, daß ein recht fleißiger und solider Gründer, der Millionen stiehlt, als Kind niemals die Schule geschwänzt, nie gelogen und nie seine Sparbüchse geplündert hat.
Dagegen ist die reifere Jugend des „grünen Heinrich“ zum größten Theile ein Spiel der ergänzenden Phantasie und sind namentlich die beiden Frauengestalten gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten.
Endlich aber mußte das Buch doch ein Ende erreichen. Der Verleger, welcher sich erst über die unverhoffte Ausdehnung und das langsame Vorrücken desselben beschwert hatte, interessirte sich zuletzt für den wunderlichen Helden und flehte, als Vertreter seiner Abnehmer, um dessen Leben. Allein hier blieb ich pedantisch an dem ursprünglichen Plane hangen, ohne doch eine einheitliche und harmonische Form herzustellen. Der einmal beschlossene Untergang wurde durchgeführt, theils in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses, theils aus melancholischer Laune. Ich nahm die Sache auch insofern von der leichten Seite, als ich dachte, man werde den sogenannten Roman eben als ein Buch nehmen, in welchem mancherlei lesbare Dinge ständen, wie man sich Lesedramen gefallen läßt. So wurde der grüne Heinrich also begraben.
Allein er schläft nicht sehr ruhig; denn wie ich höre wird der arme Kerl in den Mädchenpensionaten, wenn der Sprach- und Literaturlehrer auf das Kapitel das Romanes
Gottfried Keller: Zwei autobiographische Schriften. In: Nachgelassene Schriften und Dichtungen, S. 1 - 22. Wilhelm Hertz, Berlin 1893, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gottfried_keller_autobiogr_21.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)