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Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 637.png

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Wir werden demgemäß in diesem ersten, fundamentalen Streitpunkt über die fortgehende Wirksamkeit des heiligen Geistes und deren Nothwendigkeit bei Spener nur das Wiederauffinden der ursprünglichen, aber durch die sogenannte Orthodoxie wieder verschütteten Lebensquellen der Reformation begrüßen können. Diese Wirksamkeit des heiligen Geistes schafft und weihet eine wirkliche, lebende, thätige und freie neue Persönlichkeit, beläßt es nicht bei dem alten Ich, dessen natürliches Leben bloß durch intermittirende Akte der Sündenvergebung durch priesterliche Absolution unterbrochen und wenn nicht in Leichtsinn, in erträglicher Unseligkeit gehalten ist,[1] sondern er wirkt, worauf er es abgesehen, ein zusammenhängendes Leben der neuen Persönlichkeit, das sich in wachsender Heiligung fortbewegt. Spener und der ganze ächte Pietismus zeigt einen tiefen Eindruck davon, daß Gott es im Evangelium nicht bloß auf Versöhnung oder Rechtfertigung angelegt hat, sondern daß das Ziel, wofür diese allerdings wieder das unerläßliche Mittel sind, das sittlich reine, Gott wohlgefällige Leben ist. Dieser ethische Charakter ist Speners Wesen und seiner Schule tief eingeprägt. Schon Wiedergeburt und Glauben faßt er nicht, wie es üblich war, als bloßes Gotteswerk, wobei der Mensch sich mere passive verhalte, eine These, wobei der absolute und dualistische Prädestinatianismus nur mit Inconsequenz abzukaufen war, sondern es gehört ihm ernste Buße, wahre Sehnsucht nach der Gerechtigkeit zu den Vorbedingungen des Genusses der Begnadigung. In dem die Rechtfertigung vermittelnden Glauben ist daher, sagt Spener, wie Musäus und einige Andere, schon auch als Trieb und Lust die Liebe zu dem was gut und heilig ist, gesetzt – opera sunt in fide praesentia – wenn gleich die Rechtfertigung nicht Wirkung oder Verdienst dieser Werke ist, die keimweise dem wahren Glauben eingeboren sind. Endlich aber, wie gesagt, erhält die Ethik ihre Stelle, wie vor und in, so auch nach der Wiedergeburt. Denn die neue Persönlichkeit ist nicht da um zu feiern und zu genießen, sondern um zu arbeiten an der Heiligung ihrer selbst. Diese heiligende Arbeit besteht dem Pietismus theils in der Selbstverläugnung


  1. Vgl. Schneckenburger, comparative Darstellung II, 276. 282.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_637.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)