Große hatte das Homiliar den Geistlichen in die Hand geben wollen, damit sie es dann der Gemeinde im Gottesdienst in deutscher Sprache weitergeben sollten. Luther hat mit seiner Kirchenpostille ähnliche Gedanken gehabt. Er meinte besonders daß gegenüber den Schwarmgeistern, die fortwährend auf neue Geisteseingebungen sich bezogen, es beser sei, wenn Predigten, von angesehener Seite stammend, vorgelesen würden, damit das Volk den Eindruck habe, daß das die klare, von der Kirche erkannte Wahrheit sei. Er hat also mehr ans Vorlesen seines Predigtbuches im Gottesdienst gedacht. Kirchenpostille nannte er daher das Predigtbuch, das er gleichfalls auf der Wartburg verfaßte. Es sind keine von Luther gehaltenen Predigten, sondern schriftlich ausgearbeitete. Wie Luther mündlich gepredigt hat, wissen wir nicht näher. Eine Sammlung der Predigten, die er im häuslichen Kreise seinen Hausgenossen hielt, haben wir in der Hauspostille und sonst einzelne von ihm gehaltene Predigten, aber diese alle beruhen auf Nachschrift fremder Hand. Er muß gewaltig gepredigt haben; insbesondere wird berichtet, daß er am Tage nach dem Abschluß der Wittenberger Konkordia, Himmelfahrt 1535 über Matth. 28, 18-20 so gepredigt habe, daß man meinte einen Engel vom Himmel zu hören.
Neben das Wort selber, das im Gottesdienst reichlich gebraucht werden soll, denn durch das Wort wird der Glaube im Herzen gewirkt, neben das Predigtbuch, das das Wort dem Einzelnen nahe bringt, tritt nun als Antwort der Gemeinde auf das, was Gottes Wort zu ihr sagt, das Kirchenlied. Wenn geschichtliche Ereignise in Form der Dichtung wiedergegeben werden, nennt man das epische Dichtung; wenn lehrhafte Darlegung der dichterischen Form sich bedient, nennt man es Didaktik; wenn aber das innere Empfinden dichterisch wiederklingt, so ist das Lyrik. In der heiligen Schrift ist die Epik wenig vertreten, etwa der Lobgesang der Debora nach dem Tode Sissera’s könnte ein Beispiel davon sein. Didaktische, d. h. Lehrdichtung haben wir im alten Testament reichlich in den Sprüchen und dem Prediger Salomos und im Buch Hiob. Die heilige Lyrik ist außer dem Hohenlied und in mancher prophetischen Stelle in den Psalmen herrlich vertreten. Weshalb sollten nicht religiöse Erfahrung, geistgewirktes Erleben die dichterische Form suchen dürfen, die den Inhalt dem Herzen und Gemüt des Menschen doch viel näher bringt? So haben wir in den Psalmen lyrische Ergüsse heiliger Dichtung und diese Psalmen klingen fort im neuen Testament in den 3 neutestamentlichen Psalmen und klingen aus in der Offenbarung, wo die Engel und Seligen vor Gottes Thron auf Psalmenweise Gott ihr Lob darbringen. Epheser 5, die vorhin angeführte Stelle von Psalmen und geistlichen Liedern, beweist doch wohl, daß die Kirche die Psalmen von Anfang an, schon zur Zeit der Apostel im Gottesdienst singend gebrauchte.
Wilhelm Eichhorn: Einsegnungsunterricht 1917. , Neuendettelsau 1919, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eichhorn_Einsegnungsunterricht_1917_095.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)