Donatisten und Katharer sind kräftige Gegenwirkungen gegen die in der Kirche überhand nehmende Laxheit; eigentlich reformatorischer Art kann man sie nicht nennen. Dagegen lag ein wesentlich reformatorisches Moment in der weiter zu nennenden Erscheinung der Waldenser. Die Waldenser führen sich zurück auf Waldez (ob er Petrus Waldez geheißen hat, ist zweifelhaft). Dieser Waldez, ein Kaufmann in Lyon, um das Jahr 1200 lebend, ein reicher Mann von großem Bildungsbedürsnis, ließ sich, der lateinischen Sprache unkundig, die Schriften der Alten, der Römer und Griechen, von deren Bildungswert er gehört hatte, um Geld in die südfranzösische Sprache übersetzen um sie lesen zu können und unter diesen Schriften auch die bisher nur im Lateinischen vorhandene Bibel. Er las also auch die Bibel zuerst in dem Interesse sie kennen zu lernen. Eine schwere Krankheit und der Tod eines Freundes – merkwürdigerweise ähnlich wie bei Luther – führten ihn auf ernste Gedanken und ließen ihn aus dem Wort der Wahrheit Leben und Kraft für seine Seele schöpfen. Beim Lesen der Schrift traf ihn besonders ein Wort ins Herz, das Wort des Herrn an den reichen Jüngling: „Verkaufe, was du hast – im Himmel haben.“ Er tat das; er gab seine Güter, seinen Besitz auf; er bildete einen Verein, sie hießen sich die Armen von Lyon, die Pauperes de Lugduno, von den Feinden meist die Gesellschaft des Waldez societas Waldensiana genannt. Sie sollten im Land umherziehen um besonders den Armen, den Unwissenden das Evangelium zu predigen. Die Kirche trat heftig dagegen auf, am meisten der Bischof von Lyon. Merkwürdig, fast zu gleicher Zeit mit ihm lebte in Assissi in Italien Franziskus, das Französlein, wie der Name eigentlich gemeint ist, weil der Vater aus Frankreich stammte, auch ein gottinniger Mensch, dabei freilich mehr schwärmerisch veranlagt. Auch ihm drang dasselbe Wort des Herrn ins Herz: „Verkaufe was du hast – im Himmel haben.“ Auch er entschloß sich auf seine Güter um der Armen willen zu verzichten und hin und her im Lande der Armen sich anzunehmen. Auch in sein Tun mengte sich der Papst ein; doch als der Papst ihn vor sich beschied, faßte er den Plan, des Franziskus Gedanken für die Kirche auszunützen und gestaltete seine bisher freie Genossenschaft zu einem Mönchsorden um. Nach dem Sinn des Franziskus war es eigentlich nicht; aber er fügte sich. Papst Innozenz III. versuchte es mit Waldez gerade so zu machen; er wollte auch seine ernste Genossenschaft zu einem Mönchsorden umgestalten; aber Waldus war ein anderer Mann wie Franziskus, ein Mann voll Klarheit und Kraft. Er lehnte ab; er hatte die Kirche in ihrem Verderben und gewaltsamen Tun zu gut kennen gelernt. Und so kam es dahin, daß die Waldenser von der herrschenden Kirche hart verfolgt wurden und sich schließlich in die unwegsamen Täler der Alpen zurückzogen. Dort haben sie sich erhalten bis auf diesen Tag.
Wilhelm Eichhorn: Einsegnungsunterricht 1917. , Neuendettelsau 1919, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eichhorn_Einsegnungsunterricht_1917_036.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)