Verschiedene: Die Gartenlaube (1895) | |
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über dessen Ursprung und Wesen die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1892, S. 248, einen größeren Aufsatz gebracht hat, steht ja jenseit der Vogesen nach wie vor in Blüte und er wendet sich nicht nur an Erwachsene, sondern er beeinflußt auch die Jugend, er macht sich in der Schule breit und nährt in französischen Kinderherzen den blinden Haß gegen alles, was deutsch ist, und das tolle Verlangen, baldigst Rache für Sedan zu nehmen.
Wohl kann man auch bei uns es begreiflich finden, daß die Schulbehörden und Lehrer Frankreichs nach dem verhängnisvollen Kriege die Vaterlandsliebe bei der Jugend, auf der doch die Zukunft der Nation beruht, zu steigern suchen, daß sie die Wiedergewinnung der verlorenen Provinzen als erstrebenswertes Ziel hinstellen; aber daß sie die jugendlichen Köpfe systematisch mit ungerechtem Haß gegen die Deutschen zu erfüllen suchen, daß sie Schulbücher ausgeben, in denen der Feind, der Prussien, neben dem „edlen“ Franzosen als ein blutdürstiger und grausamer Barbar geschildert und die historische Wahrheit, bloß um Rachedurst zu entzünden, einfach auf den Kopf gestellt wird, das ist nicht zu entschuldigen und zeigt in bedenklicher Weise, wie sehr auch heute noch der gallische Sinn zu Uebertreibung, Lüge und gefährlicher Selbstüberhebung geneigt ist.
Auf den folgenden Spalten soll an einer Reihe von Beispielen gezeigt werden, in welcher Beleuchtung die Deutschen in den französischen Schulbüchern seit 1870 erscheinen. Hauptsächlich kommen hierbei die Schullesebücher und Geschichtsabrisse in Betracht; aber auch die Leitfäden des sogenannten Enseignement moral et civique liefern interessanten Stoff. Unter enseignement civique, „bürgerlichem Unterricht“, der durch Gesetz vom 28. März 1882 obligatorisch in allen Volksschulen Frankreichs eingeführt ist, versteht man eine in den deutschen Schulen noch fehlende systematische Unterweisung über die politische, administrative und gerichtliche Organisation des Landes, über die Rechte und Pflichten der Staats- und Gemeindebürger. Der enseignement moral ist an Stelle des früheren Religionsunterrichts getreten. Die meisten derartigen Bücher sind mit Geschick verfaßt und es steht viel Wissens- und Lobenswertes darin. Sobald aber die Rede zufällig oder beabsichtigt auf den letzten Krieg, auf Elsaß-Lothringen oder die Deutschen kommt, ist von sachlicher Ruhe, von gerechter Beurteilung selten mehr die Rede; chauvinistische Gehässigkeiten wechseln ab mit sentimentalen Klagen, Fest steht in diesen Schulbüchern zunächst der Satz, daß es von den Deutschen ein himmelschreiendes Unrecht war, den Franzosen Elsaß-Lothringen zu entreißen, und daß diese Provinzen wieder zurückerobert werden müssen. Niemals aber begegnet man der geschichtlichen Thatsache, daß diese Länder doch urdeutsch sind. In dem für Volksschulen geschriebenen, vielgebrauchten Leitfaden von Burdeau, „Devoir et Patrie“ (Paris, Picard und Kaan) heißt es Seite 148 kurz und stolz: „Ein Teil Frankreichs befindet sich gegenwärtig unter fremder Gewalt. Aber die ganze Welt weiß, daß wir entschlossen sind, eines Tages unsere bedrückten Brüder zu befreien; und die Geschichte lehrt, daß Frankreich schließlich stets seine Bedrücker verjagt hat!“ – In demselben Schulbuche wird S. 138 bis 143 erzählt, wie ein pflichttreuer französischer Grenzaufseher, Namens Kasper, in den Vogesen von „preußischen“ Schmugglern erschossen wird, nachdem er im Kampfe bei der Ausübung seiner Pflicht selber zweien seiner Angreifer den Garaus gemacht hat. Die sentimental zugestutzte Geschichte, die in der Nähe von Hoheneck und der „Schlucht“ spielt und im Jahre 1878 sich zugetragen haben soll, schließt damit, daß der verwaiste Sohn Kaspers durch die Fürsorge des Staates eine Freistelle im Gymnasium zu Saint-Dié erhält, wo er sich durch Fleiß und Tüchtigkeit in der Klasse wie im Schulbataillon auszeichnet. Als der vierzehnjährige Knabe sein Exerciergewehr, ein richtiges Soldatengewehr, erhält, betrachtet er es erfreut und spricht wie für sich hin: „Da bist du endlich, mein Gewehr. Wir beide wollen nicht vergessen, was wir zu thun haben: es gilt, den Grenzaufseher Kasper zu rächen“ – und nun kommt ein kühner, aber bezeichnender Gedankensprung – „es gilt, die Grenze wieder dahin zu verlegen, wo sie nie hätte aufhören sollen zu sein, da drüben an den Rhein! Ja, lieber Vater, die preußischen Schmuggler sollen nicht lange mehr ihr meuchelmörderisches Gewerbe auf den Höhen der „Schlucht“, in unserem Elsaß treiben!“
Die Elsässer, die früher von den Franzosen stets über die Achsel angesehen wurden und eine beständige Zielscheibe der Pariser Witzblätter waren, sind nach dem Kriege plötzlich zu Hätschelkindern geworden, nach denen Mutter Frankreich sich halb krank sehnt. Man bedauert die Armen, die, von den „rohen Preußen“ ihrer Freiheit beraubt, seit ihrer Lostrennung vom schönen Frankreich angeblich ein trauriges Leben führen. Auch das Herz der Schuljugend soll von Mitleid und Grimm über das Los der geknechteten Brüder erfüllt werden. Daher werden für die Schulbücher wunderbare Geschichten erfunden und ausgewählt. So wird in Burdeaus Buche „Devoir et Patrie“ (S. 43–47) von einem kleinen Elsässer die rührende Geschichte erzählt, wie sein französischer Dorfschullehrer Monsieur Hamel das letzte Mal feierlich Schule hält, nachdem von Berlin der Befehl gekommen, daß in den reichsländischen Schulen nur noch deutsch unterrichtet werden soll; und wie der alte Mann, der nun vertrieben wird, am Schulschluß, während gerade eine Abteilung Preußen mit Musik unter den Fenstern vorüberzieht, vor innerer Bewegung keines Wortes mächtig, mit großen Lettern als Abschiedswort Vive la France an die Schultafel schreibt. Ein Bild veranschaulicht die Scene.
In einem anderen illustrierten Schulbuche, in Rocherolles „Les secondes lectures enfantines“ (Paris, Armand Colin), dessen Titel mit „Lesebuch für Kinder, 2. Stufe“ zu übersetzen wäre, wird geschildert, wie ein kleiner Elsässer, der arme kleine Fritz aus Straßburg, von seiner Heimat losgerissen als neuer Schüler der Schule zu Beaumont still und traurig, gleichsam verwaist im Spielkreise seiner Kameraden dasteht und immer sehnsüchtig an seine verlorene Vaterstadt, an sein Elsaß zurückdenkt.
Auch auf Bilderbogen wird für die Kinder gelegentlich die „elsaß-lothringische Frage“ behandelt. Unter der Ueberschrift „La tache noire“ (der schwarze Fleck) wird z. B. auf einem solchen Bilderbogen (Imagerie artistique, Série 1, No. 10, Paris, A. Quantin) zu Nutz und Frommen der französischen Knaben wörtlich folgendes vorgeführt: „Zwei kleine Mädchen verlassen ihr in die Gewalt der Preußen gefallenes Heimatland: Johanna, die größere, ist Lothringerin und die kleine Marie kommt aus dem Elsaß. Sie haben einen weiten Weg gemacht und ihre Füße sind recht müde. Sie setzen sich weinend auf einen Steinhaufen, um ein wenig auszuruhen. Da kommen zwei Schulknaben lesend und lernend vorüber. Sobald sie die Mädchen erblicken, treten sie heran und fragen nach der Ursache ihres Kummers. Johanna erzählt ihnen: die Preußen haben uns verjagt; wir sind allein auf der Welt und wir wollen die Franzosen um Schutz bitten. – Wir werden euch beschützen und euch rächen, antworten Jakob und René. Alsdann nehmen sie die Mädchen mit. Im Dorfe angekommen, führt Jakob dieselben in das Schulzimmer vor die Karte von Frankreich. – Betrachtet diesen schwarzen Fleck, spricht er zu ihnen, das ist euer Heimatland; es muß wieder französisch werden! – Von diesem Tage an verbrachte Jakob, der Sergeant im heimischen Schulbataillon war, seine freie Zeit mit Exerzieren. Man hätte die Trommler und Pfeifer an der Spitze des Bataillons sehen sollen! Man hätte den Sergeanten Jakob sehen sollen, wie er seinen Säbel gleich einem wirklichen Offizier zog! Man hätte die Mädchen sehen sollen, die in Reih’ und Glied marschierten, denn sie hatten Marketenderinnen und Krankenpflegerinnen sein wollen. Sie grüßten militärisch wie jeder andere und marschierten im Schritt, ohne je einen falschen Tritt zu thun. Schließlich entschied Jakob, der mit seinen Soldaten zufrieden war, daß es Zeit sei, den schwarzen Fleck wegzunehmen und die verlorenen Provinzen zurückzugewinnen. Er that es mit seinem Säbel in Gegenwart Johannas, der Lothringerin, und Mariens, der Elsässerin. (Das dazu gehörige Bild zeigt, wie er die schwarzschraffierte Stelle, welche auf der Schulkarte Elsaß-Lothringen vorstellt, mit seinem Säbel weiß kratzt, so daß sie nun die Farbe des benachbarten Frankreichs hat.) Die Tricolore wurde auf den so wiedergewonnenen Städten Metz und Straßburg aufgepflanzt; und die wackeren kleinen Soldaten, die zu allem entschlossen sind, kreuzten das Bajonett, um ihr Heimatland zu schützen. Mögen die Preußen kommen, sie werden erfahren, mit wem sie es zu thun haben. Es lebe Frankreich!“ –
Mit Vorliebe wird in den französischen Lesebüchern französische Großherzigkeit und Heldenhaftigkeit preußischer Brutalität gegenübergestellt, und zwar, wie man leider annehmen muß, gegen besseres Wissen. In Burdeaus Volksschulbuch „Devoir et Patrie“ wird auf Seite 71 erzählt, wie im Jahre 1871 der bayrische Festungskommandant von Ingolstadt den von ihm bewachten französischen Kriegsgefangenen aus Raubgier die Hälfte ihrer Lebensmittel und alle ihre Kohlen stiehlt. Die biedern Franzosen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_718.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)