Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
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Fremdartiges, etwas vom Wundervogel Phönix, und wie dieser sich sein Nest aus würzigen Myrrhen baut, so baut sie es sich aus Sagen von exotischem Duft. Die eigentliche Heimath der Linggschen Muse ist das Alterthum; ja er greift in die vorsündfluthliche Zeit zurück in der Gedichtgruppe „Weltleben“, in der „Elefantenwanderung“, und seine Phantasie weilt bei der Erdgeschichte, ehe die Geschichte der Menschen beginnt. Doch die graue Sagenwelt ist ihm nicht bloß ein geheimnißvoll beleuchtetes Gewölke, besten dämmrigen Zauber er festzuhalten sucht; jene Sonne der Wahrheit, die allen Zeiten leuchten soll, bricht auch dort mit ihren Strahlen durch. So tönt aus Dodonas heiligen Eichenwäldern ein Orakel, das noch in der Gegenwart ein Echo wecken soll:
„Von Aegyptens Pyramiden
Bis zu Delphis Priesterin,
Bis zu Ganges’ Tempelfrieden
Herrsche einer Lehre Sinn:
Trost zu spenden, Schmerz zu lindern,
Licht zu wecken weit und breit,
Freiheit allen Erdenkindern,
Freiheit, Liebe, Menschlichkeit.“
In „Niobe“ ist die Gestalt der jammernden Mutter dem Kreise des Griechenthums entnommen und zu allgemeiner Bedeutung vertieft worden; es ist die uralte Mutter aller Völker, welche über den Brudermord derselben klagt. In dem „Gesang der Titanen“ spricht sich der Trotz auf das irdische Glück aus gegenüber dem Zorn der Götter. In der dritten Sammlung ist ein Gedicht den unheimlichen Jungfrauen, den Harpyen, gewidmet; diese greifenklauigen Sagenheldinnen werden tiefsinnig als Hüterinnen eines Reiches der Ausgestoßenen dargestellt:
„Und zu ihnen kommt, wer flüchtig aus der Heimath irren muß,
Wen die Menschheit ausgestoßen, oder Lebensüberdruß;
Elternlose, bleiche Kinder, schuldlos wie im Paradies,
Die kein Vaterland mehr haben, die das eigne Blut verstieß.
Dahin kommen stolze Frevler, Geister, die zu kühn und groß
Allzufrüh vom sichern Ufer banden ihre Schiffe los,
Abgehau’ne Heldenzweige eines einst berühmten Baums,
Träumer, die zu tief geschlafen auf den Kissen ihres Traums.“
Doch nicht bloß der alten Sage, auch der alten Geschichte Roms und Griechenlands hat Lingg zahlreiche Stoffe entnommen, von „Spartacus“ in der ersten Sammlung, einem wilden Kampfruf des Sklavenaufstandes, bis zu „Alexanders Tod zu Babylon“ und dem Gedichte „Korinth“, einem düster beleuchteten Bild der von den römischen Legionen eroberten und geplünderten Stadt.
So wandert seine Muse auch durch das Mittelalter und die Neuzeit; doch diese reiche und bunte Stoffwelt ist kein orbis pictus, kein locker zusammengeheftetes Bilderbuch; es ist der Geist des Denkers, der sich in die Räthsel der Geschichte vertieft, der Fernes und Nahes verknüpft. Sinnbildlich dafür mag das Gedicht „Die Römerstraße“ sein, wo der Dichter an der von den Römern erbauten Straße steht und die Kohorten gepanzert vorüberziehen sieht:
„Da plötzlich ruft ein Laut mich wach,
Ein Erzgedröhn auf nahen Gleisen –
Ich steh’ am Kreuzweg; hier durchbrach
Den Römerpfad der Pfad von Eisen.
Und donnernd rollt der Wagenzug
Vorbei den alten Meilensteinen,
Wie Blitz des Zeus und Geisterflug,
Der Erde Völker zu vereinen.“
Der tiefere Sinn und der große geschichtliche Geist hob gleich die ersten Gedichte Linggs aus der Menge heraus in einer Zeit lyrischer Verschwommenheit; sie befreiten das Gemüth von dem Druck enger und kleinlicher Empfindungen. Einzelne von ihnen hatten den genialen Wurf, der sie dem Gedächtniß einprägt. In der reinen Höhe seines denkenden Geistes fallen die Schranken der Zeitalter; von dem schwerterklirrenden Schlachtgewühl des Trasimenischen Sees werden wir unter die Geschütze von Friedrichshall, vom römischen Janustempel zur Gralsburg, von Hannibals Kämpfen zum Krimkrieg, von den Cyklopenmauern an die Bastille geführt; von Nimrod versetzt uns der Dichter zu Cartesius und Gutenberg, von der ormuzdgläubigen Mandane zu dem Inka Perus, der zur Sonne betet. Doch immer huldigt der Dichter den „Genien der Menschheit“, nicht bloß in dem Gedichte, das diesen Namen trägt; immer tönt jener Orakelspruch von Dodona mit geheimnißvoller Weihe durch alle Geschichtsbilder und Herzensergüsse hindurch.
Eine Lieblingsform der Linggschen Dichtweise sind die meistens reimlosen „Freien Rhythmen“, die sich der üblichen strengen Messung entziehen und sich nur an das Taktgefühl wenden, welches dem gebenden Dichter und dem empfangenden Leser gemeinsam ist. Sie eignen sich, wie schon des Griechen Pindar Vorgang bewies, für höheren Gedankenschwung; namentlich in der Sammlung „Lyrisches“ finden sich derartige Gedichte, welche viel Schönes, Großgedachtes und oft schlaghaft Ausgesprochenes enthalten, so daß manche Gedanken wie in Erz gegossen, wie in bleibende Votivtafeln eingetragen erscheinen. Bisweilen reimt Lingg auch solche Gedichte, wie das schwunghafte „Girgenti“ in der Sammlung „Lyrisches“ und das prächtige Naturbild „Gewitter am Morgen“ in den „Jahresringen“ beweisen.
Einem so zum Großen und Gedankenschweren sich hinneigenden Talent scheint das eigentliche Lied mit seinem leichten Guß und Fluß und seinem stimmungsvollen Duft ferner zu liegen; gleichwohl könnte man aus Linggs Gedichtsammlungen mühelos einen Liederband zusammenstellen, und obschon hier und dort eine Liederblüthe durch die auf ihr lastende Gedankenschwere geknickt wird, so bleibt doch noch ein reicher duftiger Liederstrauß übrig und des Dichters Eigenart bringt es mit sich, daß diese Lieder nicht der Alltagsflora angehören, sondern daß aus ihren Blüthenkronen ein besonders würziger Hauch ausströmt. Und auch dem alternden Sänger hat sich dieser Zauber nicht verschlossen, wie das Gedicht „Wilde Rose“ in den „Jahresringen“ beweisen mag:
Es war eine sternenlose,
Von Blitzen schwang’re Nacht,
Da ist die wilde Rose
Zum vollen Blüh’n erwacht.
Da kamst du still gegangen,
Da flogst du auf mich zu:
Ich hielt dich jubelnd umfangen,
Du wilde Rose du!
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_065.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)