Verschiedene: Die Gartenlaube (1890) | |
|
Massenerkrankungen derartige Naturen schließlich zum Opfer fallen, kann noch nicht als Schwere der Epidemie gedeutet werden, dann müßte der Prozentsatz der Sterblichkeit ein bei weitem höherer sein, als er glücklicherweise ist.
Was ergiebt sich nun aus der Leipziger Epidemie bezüglich der Ansteckung?
Ganz sicher, daß die Influenza eine reine Infektionskrankheit ist wie Scharlach, Masern und Pocken. Der Glaube an ein Luftmiasma ist besondere durch das plötzliche massenhafte Auftreten der Epidemie entstanden, es werden aber die ersten Fälle, wegen ihrer Aehnlichkeit mit Katarrhen, leicht übersehen, wie ich dieses jetzt so deutlich in Leipzig beobachten konnte. Die Krankheit beginnt zumeist auch nicht so plötzlich, als es scheint. Der Kranke fühlt sich fast immer schon den Tag vorher matt und appetitlos, auch kleine Fiebersteigerungen machen sich oft bemerkbar. Es erkrankt im Durchschnitt in einer Familie ein Mitglied zuerst, nach einigen Tagen folgen dann die übrigen, angesteckt durch das erste; mancher Mensch erkrankt gar nicht, ein anderer ist zuerst gefeit, um schließlich doch noch zu erkranken; die gleichen Verhältnisse bietet auch der Scharlach. Ob Gesunde und Gegenstände die Uebertragung vermitteln, erscheint fraglich, die Hauptansteckung scheint von dem Erkrankten selbst auszugehen und ist wie bei den Masern genügend, eine große Epidemie hervorzurufen.
Auch in den früheren Epidemien finden sich Stützen für die persönliche Uebertragung, in einer wird die Schnelligkeit der Verbreitung mit der eines Reiters verglichen, in anderen soll sie nicht so schnell vorwärts gegangen sein. Bei den Schiffserkrankungen wird hervorgehoben, daß sich die Schiffe in der Nähe der Influenzaküste befunden hatten; da der Stoff zur Entwickelung einen Tag wenigstens bedarf, so ist die Erkrankung auf hoher See dann begreiflich. Auch das Fortschreiten bei der jetzigen Epidemie in kleinen Dörfern dient zum Beweis; es giebt immer erst wenige Erkrankungen, woran sich die andern anschließen.
Begünstigt wird die Weiterverbreitung durch die große Neigung, welche der Mensch zu dieser Erkrankung besitzt, wie es in der gleichen Weise bei Masern der Fall ist.
Wiederholte Erkrankungen sind sicher selten und hierdurch ist in großen Städten das schnelle Erlöschen einer Epidemie, gewöhnlich nach sechs bis acht Wochen, erklärlich. Wegen dieses allgemeinen Befallenwerdens ist eine Bekämpfung der Epidemie selbst unmöglich und die Hilfe muß auf den einzelnen Fall beschränkt werden. Mit Sicherheit hat sich durch die Beobachtung ergeben, daß die größte Anzahl der schweren Luftröhrenkatarrhe durch die Nichtbeachtung im Beginne entstanden ist. Es sollte das Zimmer nicht verlassen werden, so lange Fieber besteht und Reizungen der Luftröhre noch vorhanden sind. Auf die Diät ist große Sorgfalt zu verwenden, Reizmittel bei dem bestehenden Appetitmangel nutzen nichts, die Besserung tritt von selbst nach kurzer Zeit ein. Starke Rücken-, Kopf- und Kreuzschmerzen, Fieber und Erbrechen machen ärztliche Hilfe erforderlich; für leichtere Fälle genügt Berücksichtigung der Verdauung, nasse Kompressen mit spirituöser Einreibung, Senfteige. Das Durstgefühl wird am besten mit leichtem Pfefferminzthee gestillt, kohlensaures Wasser ist besser zu vermeiden. Wegen der Betheiligung der Augen ist in den ersten Tagen jedes Lesen zu unterlassen. Man hüte sich noch längere Zeit vor Erkältungen, da eine große Empfindlichkeit der Luftröhre zurückbleibt.
Merkwürdig bleibt auch in dieser Epidemie das Verschwinden von beinahe sämmtlichen anderen akuten Krankheiten; weder Scharlach, noch Masern, noch Diphtherie sind sichtbar, nur Influenza mit ihren Begleiterscheinungen tritt auf. In früheren Epidemien wurde nur bei dem Nachlassen derselben ein Hervorbrechen anderer Krankheiten beobachtet, besonders Masern sollen in größerer Anzahl ausgebrochen sein, ebenso Wechselfieber. Diese Thatsache ist leicht erklärlich, denn gerade für diese Erkrankungen bereitet die Influenza durch Schwächung der bezüglichen Organe einen günstigen Boden. Eine große Besorgniß hört man oft aussprechen, daß die Influenza der Vorbote der Cholera sei. Diese Furcht ist vollkommen unberechtigt; in einigen wenigen Epidemien hat sich allerdings die Cholera angeschlossen, aus Zufall, weil sie vorhanden war und geschwächte Menschen vorfand, aber bei der Mehrzahl der Epidemien war dieses sicher nicht der Fall, wie sich durch eine Vergleichung der Jahre ergiebt.
Woher die Epidemie stammt? Diese Frage müssen wir unentschieden lassen! In manchen Epidemien kamen zahlreiche Erkrankungen von Pferden vor, auch jetzt soll es in England der Fall sein. Vielleicht gleicht ihr Ursprung dem der Cholera, insofern der Ansteckungsstoff an irgend einem Orte immer vorhanden ist und unter günstigen Bedingungen seine Weltreise antritt. Wir können dann nur wünschen, daß der Verlauf im Durchschnitt immer ein so günstiger sein möge wie bei dieser Epidemie.
Hermann Lingg.
Wenn wir im vorigen Jahre eine Reihe von Dichtern die Grenzlinie der Siebziger überschreiten sahen, so bringt uns dies Jahr bald nach seinem Beginn ein neues „Dichterjubiläum“; man darf es wohl so nennen, denn die Feier des siebzigsten Geburtstages ist zu einer Art von Jubelfeier für die Dichter geworden, denen dieses Lebensalter zu erreichen vergönnt ist. Ein bedeutender Poet, Hermann Lingg, geboren am 22. Januar 1820, feiert an diesem Tage im Jahre 1890 seinen siebzigsten Geburtstag.
Die Erlebnisse Linggs haben durchaus nichts Wechselvolles, nichts, was über ein ruhiges, den Musen geweihtes Dasein hinausginge. Seine Geburtsstadt ist Lindau im Bodensee; er besuchte das Gymnasium zu Kempten, studierte seit 1837 in München, Berlin, Prag und Freiburg Medicin, war zwei Jahre Armenarzt in München und ließ sich dann als Militärarzt anstellen; als solcher nahm er seinen Aufenthalt abwechselnd in Augsburg, Straubing und Passau. Einen ihm bewilligten Urlaub benutzte er zu einer Reise nach Rom und Neapel, welche seine Phantasie mit einer Fülle von Anschauungen befruchtete, denen er später dichterische Gestalt verlieh. Im Jahre 1851 nahm er seinen Abschied aus Gesundheitsrücksichten, wohl auch, um ganz der Muse leben zu können, die ihn schon seit längerer Zeit mit ihrer Gunst erfreute und die sich in den Militärlazarethen schwerlich heimisch fühlen konnte. Seitdem lebt er in München. König Maximilian II., der ja eine dichterische Tafelrunde um sich versammelte, gab ihm ein Jahrgehalt, und Emanuel Geibels Freundschaft ging ihm zur Hand, als er im Jahre 1854 die erste Sammlung seiner Gedichte veröffentlichte. Sie erregten alsbald Aufsehen, und schon seit jener Zeit zählt Linggs Name zu den gefeierten Dichternamen Deutschlands. Auf dem Gebiete lyrischer Dichtung, aus dem er seine ersten Lorbeern errungen hat, blieb er unermüdlich thätig und seine Schöpferkraft versiegte bis in das höhere Alter nicht. Der ersten Sammlung seiner „Gedichte“ folgte eine zweite (1868), der zweiten eine dritte (1870); es erschienen 1869 „Vaterländische Balladen und Gesänge“, im Jahre 1878 die Gedichte „Schlußsteine“, 1885 die Sammlung „Lyrisches“, und jetzt eben hat die Cottasche Verlagsbuchhandlung zur Jubelfeier des Dichters einen neuen Band Gedichte unter dem Titel „Jahresringe“ herausgegeben. Hermann Lingg hat in diesen späteren Sammlungen keine neuen Bahnen eingeschlagen, wenn er auch mit vielen neuen trefflichen und köstlichen Kleinodien den Juwelenschrein seiner Dichtung bereichert hat. Es liegt keine Entwicklung vor, der man Schritt für Schritt folgen müßte; man zieht die Summe seines dichterischen Schaffens, wenn man alle diese Sammlungen gleichzeitig ins Auge faßt und die überall gleichmäßige Eigenart seines Talentes in ihrer steten Erneuerung und Verstärkung beleuchtet.
Hermann Lingg gehört zu den Poeten, die sich durch großartigen Gedankenschwung auszeichnen; er ist in erster Linie Oden- und Hymnendichter, obschon er nur selten die Versmaße des Alterthums nachgekünstelt hat. Seine Bedeutung aber liegt darin, daß er das solcher Dichtung entfremdete Publikum der Gegenwart für dieselbe gewonnen hat; denn das Los schwunghafter Gedankenpoeten ist sonst meistens Vereinsamung. Wenn Lingg mit einzelnen seiner Gedichte, trotz ihrer geistigen Tiefe und Schwere, in das Volk gedrungen ist, so ist er dadurch wahrhaft in die Fußtapfen Schillers getreten.
Linggs Gedichtsammlungen machen den Eindruck eines Pantheons, in welchem die Götter aller Völker in Gebeten und Hymnen gefeiert werden; seine Poesie hat etwas Seltsames,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_064.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)