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Seite:Die Gartenlaube (1889) 784.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

bohrenden Zähigkeit seinen lieben Nächsten so lange durch Fragen mürbe zu machen, bis dieser ihm die gewünschte Auskunft wüthend an den Kopf warf wie ein gereizter Quartaner einen Schneeball, so war der Amtsrichter von Natur eher das, was man im gewöhnlichen Leben einen Geheimnißkrämer nennt. Niemand sollte wissen, was er that, was er trieb, wo er seine Sachen kaufte und mit wem er in Briefwechsel stand – ja sogar seinen Vornamen betrachtete er als tiefstes Geheimniß, und es hatte einmal zu einem leidenschaftlichen Zerwürfniß mit seiner Frau geführt, als sie, diesen Grundsatz nicht gebührend würdigend, ihn in der Eisenbahn mit der harmlosen Anrede: „Sieh doch die reizende Aussicht, Karl!“ – vor den Mitreisenden demaskirt hatte.

Die beiden so sehr verschiedenen Herren trafen sich also, und während der Amtsrichter sich wie ein Aal wand, um dem Apotheker zu entgehen, hielt dieser ihn ebenso beharrlich fest und eröffnete die Unterhaltung mit der allerdings schon durch den Augenschein genügend beantworteten Frage: „Nun, kommen Sie schon vom Gericht, Herr Amtsrichter?“

„Nein!“ sagte der Amtsrichter unliebenswürdig.

„Nein?“ wiederholte Herr Lebermann verwundert, „aber das ist doch Ihr gewöhnlicher Weg? Wo kommen Sie denn her?“

Der Amtsrichter stellte sich taub.

„Um die Zeit kommen Sie doch gewöhnlich vom Gericht,“ fuhr Herr Lebermann fort; „ach, Sie wollen’s bloß nicht sagen,“ setzte er gemüthlich hinzu, „ich weiß es ganz gut!“

„Nun, wenn Sie’s wissen, brauchen Sie mich ja nicht erst zu fragen,“ brummte der Amtsrichter.

„Und jetzt gehen Sie nach Hause,“ bemerkte Herr Lebermann mit der glücklichen Sicherheit eines Mannes, der seinen Lebenszweck erreicht hat, genau über anderer Leute Ziele und Wege auf dem Laufenden zu sein, „ich komme ein Stückchen mit! Ich gehe nämlich jetzt jedem Tag um diese Zeit spazieren!“

„Das machen Sie recht!“ bemerkte Herr Schwarz mit tödlicher Gleichgültigkeit.

„Und wenn ich nach Hause komme, esse ich mein belegtes Brötchen,“ theilte der Apotheker vertraulich mit, „nur eins! sonst verderbe ich mir das Mittagsessen! Ja, dabei fällt mir ein – wie bekommt Ihnen denn das spätere Mittagsbrot?“

Der Amtsrichter sah ihn giftig an.

„Woher wissen Sie denn, daß ich später esse wie gewöhnlich?“ frug er entrüstet.

„Nun, Ihre Pauline ist ja die Schwester von unserer Klara – die hat es ihr erzählt. Nicht wahr, Sie essen um halb Zwei?“

„Wie es kommt!“ stieß der gereizte Amtsrichter hervor, der seiner selbst kaum mehr mächtig war, „aber hier bin ich zu Hause – guten Morgen, Herr Lebermann!“

„Halt!“ sagte der Apotheker und faßte den Amtsrichter, der sich ärgerlich loszumachen suchte, am Rockknopf; „noch eins – bei Ihnen ist wohl Besuch angekommen?“

„Warum?“ frug Schwarz, zitternd vor Zorn – er hatte seine Schwägerin vor zwölf Stunden bei stockfinsterer Nacht von der Bahn geholt und hoffte, die Thatsache ihrer Anwesenheit sei noch niemand bekannt.

„Nun, ich sah heute, daß Ihre Pauline drei Törtchen von Steidler holte,“ meinte der Apotheker harmlos, – „sonst haben Sie doch immer zwei – da dachte ich mir –“

Der Amtsrichter warf dem Frager einen vernichtenden Blick zu.

„Nehmen Sie doch den Fall an, ich hätte einmal zwei Törtchen essen wollen!“ sagte er mit beängstigender Höflichkeit und ging voll Aerger in das Haus.

Große Entschlüsse reiften in seinem Herzen, und das Ergebniß dieser Ueberlegungen zeigte sich darin, daß er, als er mit seinen Damen beim zweiten Frühstück saß, plötzlich die überraschenden Worte ausstieß: „Wir reisen heute abend nach Berlin!“

Helene ließ die Gabel sinken und sah ihren Mann mit weitgeöffneten Augen an. „Heute abend?“

„Na, wenn ich sage, heute abend, da meine ich nicht in anderthalb Jahren,“ brummte der Hausherr. „So seid Ihr Frauen! Immer hast Du geredet und gebeten: wir wollen doch einmal reisen – wir wollen doch einmal herauskommen! Und jetzt, wo ich es Euch anbiete, machst Du Schwierigkeiten!“

„Aber bester Karl!“ beschwichtigte seine Frau, „ich war ja nur so überrascht durch den plötzlichen Entschluß! Wie kommst Du denn darauf?“

„Ich habe die Krähwinkelei hier satt – und besonders den Apotheker!“ sagte Karl energisch. „Was tausend – ich kann mir ja nicht die Nase putzen, ohne daß der Lebermann herschickt und mich fragen läßt, ob ich den Schnupfen habe! Die Leute ersticken einen hier mit ihrer Neugier! Ich will einmal sehen, wie es in einer großen Stadt ist, wo man so ganz inkognito herumgeht – ich kann gerade den Sonntag über abkommen – wir nehmen drei Retourbillette und fahren heute abend nach Berlin! Abgemacht! Geht und packt Eure Sachen!“

Er legte die Serviette zusammen und erhob sich. Ein halblauter Ausruf Aennchens unterbrach ihn:

Drei? – fahre ich auch mit?“

Eine so unverhohlene Glückseligkeit sprach aus ihrem reizenden Gesichtchen, daß der Schwager sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.

„Na freilich,“ sagte er, „wir werden Dich doch wohl nicht zu Hause lassen!“

„Ach, Karl – danke!“ rief Anna hocherfreut, und während Helene ihren „Brummbär“ von der einen Seite streichelte, klopfte die kleine Schwägerin ihn von der andern auf die Schulter, „danke, Karl – Du bist entzückend!“

„Na, das hat mir auch seit meinem zweiten Jahr keiner mehr gesagt,“ meinte der Amtsrichter, dessen üble Laune vor den Strahlen der durch ihn verbreiteten Glückseligkeit zerging wie Schnee an der Frühjahrssonne, „nun weiß ich doch, wie man solche kleine, scheue Vögel zahm macht – nicht wahr, Helene? Entzückend!“

Und mit einem halb ironischen, halb geschmeichelten Achselzucken verließ er das Zimmer, um sich in das Studium des Kursbuches zu vertiefen, welches ihm wie den meisten selten reisenden Leuten ein Buch mit sieben Siegeln war.

Der Tag, an welchem dieser folgenschwere Entschluß gefaßt wurde, war ein kalter, windiger Herbsttag, der aufs entschiedenste gebot, sich für die Nachtfahrt mit warmen Kleidungsstücken zu versehen, Die Damen waren den ganzen Nachmittag mit dem Herrichten ihrer Garderobe beschäftigt, die sich plötzlich, angesichts der Reise, in mancherlei Hinsicht als der Ergänzung bedürftig erwies.

„Das kaufen wir alles in Berlin!“ beruhigte Helene die Schwester, die mit äußerst sorgenvoller Miene ihr einfaches Strohhütchen aufsetzte und gar nicht zu bemerken schien, wie allerliebst es ihr zu Gesicht stand. Der Amtsrichter ging ab und zu und warf kurze Bemerkungen in das Zimmer der Damen: „Nehmt nur nicht die halbe Aussteuer mit auf die zwei, drei Tage!“ warnte er.

Der Abend kam schnell heran, die Zeit wurde möglichst ausgenutzt, und als schon die Lampen brannten, fand sich immer noch dies und jenes, was zu besorgen oder zu bestellen war. Im letzten Augenblick – man saß schon beim Thee – fiel dem Hausherrn nach etwas ein – er klingelte.

„Hast Du besorgt, was ich Dir heute vormittag auftrug?“ frug er das eintretende Mädchen in seiner geheimnißvollen Art.

Pauline sah ihren Herrn mit nicht allzu geistreichem Ausdruck an.

„Was denn, Herr Amtsrichter?“

Das abgeholt!“ umschrieb der Angeredete.

Pauline schwieg aus entschiedenstem Mangel an Verständniß.

„Aber Karl, sage ihr doch, was Du meinst,“ bat Helene, „die Zeit drängt – wir müssen ja fort!“

„Nun ja,“ erwiderte der Amtsrichter verdrießlich, „Ihr könnt es natürlich nicht ertragen, wenn Ihr nicht wißt, wovon die Rede ist! Hast Du meinen Pelz vom Kürschner geholt, Pauline?“

Pauline erröthete schuldbewußt.

„Ach, das habe ich ganz vergessen, Herr Amtsrichter – ich springe jetzt noch rasch hin!“

„Ja, und ‚springst‘ erst zurück, wenn wir schon in der Bahn sitzen,“ sagte ihr Herr verächtlich; „na, dann werde ich mich eben an den Tod erkälten auf der Reise – wenigstens brauche ich dann dem Lebermann nicht zu erzählen, wie es bei meinem Begräbniß war!“

„Nun, nun, Karl,“ beschwichtigte Helene diese düstere Auffassung, „da ließe sich wohl noch ein Mittelweg finden! Pauline bringt uns den Pelz direkt auf die Bahn und Du nimmst ihn dort in Empfang! Verstehst Du, Pauline?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_784.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)