Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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No. 21. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Liebes Kind,“ begann Alfred nach einer Pause herzlich zu Germaine,
„wir kommen auf das Thema über Ihre Zukunft zurück. Ich
verspreche Ihnen, darüber nachzudenken und Ihnen morgen zu
sagen, was wir anfangen könnten, Ihnen die Beschäftigung und
den Verdienst zu verschaffen,
nach welchen Sie sich so sehnen.
Wir werden morgen den ganzen
Tag zusammen sein. Langjährige
Bekannte von mir,
Assessor Ravenswann und
Frau, sind angekommen, wir
haben eine Tagestour nach
Gernsbach verabredet, und ich
werde Sie den Herrschaften
vorstellen; Frau Ravenswann
ist schon davon verständigt.
Vielleicht auch, daß diese Dame
Ihnen einen Rathschlag geben
kann, obschon ich, falls Sie
sie um einen solchen bitten,
Ihnen sagen muß, daß Sie
nur von Ihrem Wunsch nach
Beschäftigung, nicht von der
Nothwendigkeit zu erwerben
sprechen dürfen.“
„Das sieht Ihnen nicht ähnlich,“ sagte Germaine lebhaft, „meinen Mangel an Besitzthümern als eine Sache, die man schamhaft verschweigt, anzusehen.“
„Mir nicht, nein,“ antwortete er, „aber es ist einmal so: man ist einem bemittelten Menschen lieber förderlich als einem bedürftigen.“
„Werde ich Berührungspunkte mit den Herrschaften haben? Werde ich ihnen auch gefallen?“ fragte sie nachdenklich.
„Das ist ziemlich gleichgültig. Es braucht auf diesem einen Tag des Beisammenseins ja kein Verkehr zu erwachsen, wenn beide Theile sich nicht sympathisch sind. Ich sah aber nur auf diese Weise die Möglichkeit, Sie einmal in die herrliche Gegend hinauszuführen.“
„Wie gut Sie sind zu mir! Und das alles nur aus Pietät für den Wunsch eines Verstorbenen! Wenn Ihnen dieser Wunsch so wichtig ist, daß Sie ihn so liebevoll erfüllen, begreife ich nicht, daß Ihnen die hinterlassenen Briefe so unwichtig sind. Sie haben noch immer nicht darin gelesen,“ sagte sie fast vorwurfsvoll.
„Sie doch auch nicht!“
„O – es sind Briefe von Ihrem Vater,“ sagte sie abwehrend.
„Aber an Ihre Mutter gerichtet! Lassen wir sie einstweilen noch ruhen. Es findet sich ein Tag, wo wir sie lesen – aber dazu muß man gestimmt sein, heute bin ich es nicht.“
Er stand auf.
„Sie wollen fort?“
„Ja – heute duldet es mich selbst hier nicht. Ich habe viel zu denken und brauche Einsamkeit,“ sprach er, mit zerstreutem Blick zur Allee hinübersehend. „Also morgen früh um zehn Uhr sind Sie am Viktoriahotel. Wir fahren zwar fast an Ihnen vorbei, aber ich finde es, anstatt eines Besuches, den Sie nicht machen sollen, doch so höflicher, wenn Sie am Hotel sind.“
„Gewiß, und ich werde mich von Lene dahin begleiten lassen.“
Er hörte nicht. Er stand und starrte nach der Allee hinüber.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_341.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)