Verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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No. 20. | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Daß Marbod an Gerda geschrieben, hatte Alfred hingenommen
ohne Mißbilligung, ohne Freude. Mit einer Ergebenheit,
die einer vollkommenen Lähmung der Thatkraft gleichkam, erwartete
er, was auf des Freundes
Brief erfolgen werde. Es
gab Sekunden, in denen er
sich einbildete, daß Marbod
telegraphiren werde, wenn
sie gütig antworte. Dann
andere, wo er dachte, sie
werde nach dem Empfang
von Marbods Brief selbst
herunterkommen.
Täglich ging er die Schloßstraße hinauf und saß lange, lange auf der Bank unter den Linden der Terrasse vor dem großherzoglichen Schloß. Von dort konnte er über die Stadt im Thale hinweg zur jenseitigen Bergwand sehen, wo das Haus – jetzt ihr Haus! – am Waldesrand so friedvoll und freundlich in seinen braunen, grünen und weißen Farben aufleuchtete.
Nun war die letzte Entscheidung da. Aber eine tödliche Angst befiel ihn. Er ging mehremale in seinem Zimmer auf und ab, ehe er den Muth fand, das Couvert zu erbrechen.
Zuerst las er Gerdas wenige Zeilen. In seinem blassen Gesicht veränderte sich kein Zug. Seine Schmerzensstarrheit erweichte sich nicht zu neuem Zorn oder neuen Thränen. Er hatte gefühlt, gewußt, daß sie gerade so schreiben werde. Fast eine Stunde ging ihm hin, ohne daß er das Vorrücken des Morgens bemerkte. Er sah immer in das Briefblatt, und es war, als wollte sein durchdringendes Denken diese stummen Zeilen von Tinte zu redenden Menschen verwandeln, um zu ergründen, was alles sie noch gedacht, als sie so schrieb, wie ihr Auge dazu geblickt und was um ihren stolzen schönen Mund gespielt.
Umsonst, die Zeilen blieben, was sie waren, und sagten nicht mehr, als die Buchstaben ergaben. Aber vor seinen Augen begannen zuletzt diese Buchstaben regenbogenfarbige Ränder zu bekommen und aus ihrer geraden Linie herauszuhüpfen.
Er legte das Briefblatt hin, barg das Haupt in den Händen. und dachte nichts, als daß er Kopfschmerzen habe zum Wahnsinnigwerden.
Eine Uhr, die auf dem Kamin unter einer riesigen Glasglocke stand, schlug elf. Er sah zum Zifferblatt hinüber. Die gezierte Rokokoschäferin von Goldbronze, die sich unerträglich anmuthig an das Zifferblatt lehnte, schien ihm zärtlich zuzulächeln. Seine Phantasie belebte dies dumme Gesicht bei allem, was er that. Sah er von der Arbeit nach der Uhr, so lächelte die Schäferin ermuthigend, kam er spät nach Hause, allein und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_325.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)