Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Aechzend rollte das schwarze Thor auf. In langen Reihen lagen die Gräber vor ihr wie hingemähte Schwaden. Die Zweige der darauf gepflanzten Linden und Rosenstöcke schwankten in der milden Abendluft, daß blasse Schatten unter ihnen zu tanzen schienen. Hier und da ragte ein verwittertes Kreuz auf; seine goldene trostreiche Inschrift: „Wiedersehen“ hatte das Wetter halb verwischt. Prunkende Steinmonumente, welche die Würden und Thaten der darunter Ruhenden verkündigten, waren eingesunken, die Namen von bunten Flechten überzogen, und über namenlosen Gräbern wiegten sich zarte Maienglöcklein.
An dem Grabbaus ihrer Sippe ging sie langsam vorüber. Durch das schmiedeeiserne Thürgitter leuchtete das große Epitaphium mit seinen weißen Engeln, die goldene Posaunen trugen, des Rufes gewärtig, um zur Auferstehung zu blasen. Großvater und Vater konnten hier nicht ihre Urständ halten. Die lagen allein, abgeschieden durch eine starke Schutzwehr von Eichenbohlen in der Pestilenzecke. Niemand durfte die Hand an die Gräber legen, Niemand sie schmücken. Dennoch sproßten auf den einsamen Hügeln Gräser und Kräuter. Ihre Samenkörner waren im verloschenen Herbst auf kleinen Segeln und Fallschirmen über das für immer geschlossene Gitter geflogen und hatten die ihnen von der Natur zugetheilte Arbeit begonnen, aus der Verwesung Blüthen zu zaubern, den Moder in balsamische Düfte zu wandeln, den Tod in Leben zu verkehren.
Das hatte ein Jahr gethan. Was vermochten zehn, was hundert Jahre zu vollbringen? Was war alsdann von alledem noch da, das jetzt um sie lebte und webte? Von den Blumen, dem kleinen wimmelnden Gethier zu ihren Füßen, den singenden Vöglein in den Bäumen? Alles still, stumm, verstäubt. Wie lange noch – dann stand auch ihr Sarg unter den Wacht haltenden Engeln; ihr Herz hatte ausgeschlagen und sehnte sich nicht mehr hinweg über die Schranken des fürnehmen Standes, die so stark waren wie das Bollwerk an der Pestilenzecke.
Dann kam vielleicht einmal ein armer Wanderer nach Arnstadt und fragte: „In welchem großen Kaufhaus wohnt die, so man sonst die schöne Hanne benamsete?“ Und wenn die Leute antworteten: „Draußen in dem Erbbegräbniß der Hennings hat sie ein Plätzlein funden; denn sie ist als alte Jungfer gestorben,“ dann erhielt er das Beweisthum ihrer wahren Liebe, die ihm bis in den Tod treu geblieben war. Dann stand er wohl dort und schaute durch das vergoldete Gitter auf ihre Ruhestatt. Wie ein Hauch von Frieden zog es durch ihre Seele und sie sagte sich: „Ueber jeglichem Häuflein Unglück wölbt sich einmal die Erde, und dann blüht auch noch eine schöne Blume heraus; da aus dem Pestgrabe das goldgelbe Pfaffenröhrlein, das jetzo mit dem Sinken des Tagesgestirns die Sonnenaugen schließt, wie drunten die stillen Schläfer gethan, drüben aus dem Grabhaus dereinst – geliebt’s Gott – das Blümlein Vergißmeinnicht für den armen Hiob.“
Sie ging, ruhig geworden, heim. Als sie an den Hopfenmarkt kam, saß ein Kreis fröhlicher Menschen in Brotkorbs Hausthür. Wohlthuende Kühlung wehte von dem großen Brunnen her, über dessen stockwerktiefem Steinbecken das Standbild des streitbaren Grafen Günther von Schwarzburg mit goldig gleißendem Wappenschild sich erhob. Das Wasser sprudelte in starken Strahlen hervor, zur Zufriedenheit des Rathsbrunnenmeisters, der neue sichtene Wasserröhren für die Leitung gelegt hatte und sein Werk von der gastlichen Thürbank aus beaugenscheinigte.
Auch die sommersprossige Barbara sah anmuthiger aus denn sonst. Die frohe Geschäftigkeit und die feierlichen Vorbereitungen, die um eine Jungfrau walten, welche sich einem Manne verlobt hat, verbreiteten auch um das Lerchenei ihren Schimmer und verliehen ihm Gewicht. Sie ging Johanne entgegen und lud sie in den Kreis. Eben war der Kirchenanzug angelangt, den jede junge Bürgersfrau als Ausstattungsstück bekam: der schwarze Tuchrock, die Schuhe von sämischem Leder mit Silberschnallen, der dunkelblau Tuchmantel, dessen dreizackigen Kragen eine echte Goldborte einfaßte, und die ganz güldene Haube, welche Brabanter Kanten und ein Büschel weißseidener Bänder zierten. Auch das Gesangbuch fehlte nicht; mit silbernen Spangen war es verschlossen. Und Herr Fischer prodirte schäkernd, ob der Ehering paßte, in den er einen kostbaren Krötenstein hatte setzen lassen.
Zu Johannens Verwunderung hatte die Muhme Schmidtin auch hier den Ehrenplatz, einen sägebockförmigen Lehnstuhl, erobert und führte das große Wort.
„Setzet das christliche Ehren- und Freudenwerk auf Johanni fest. Da ist zunehmender Mond, es regiert weder Wassermann, der Thränen bedeutet, noch Widder, welcher um seiner Hörner willen gänzlich verpönt ist.“
„Frau Muhme,“ rügte der Rathsbrunnenmeister, „solche Ansichten sind nur ein sternguckerischer Aberglaube. Die Ehen fallen so aus, wie sie von den Menschen geführt werden.“
„Herr Vetter, Ihr seid ein Schwarmgeist und habt derohalb nicht mit zu reden,“ führte sie ihn ab. „Dann können Deine Gespielinnen, Bärbchen, auch die schönsten Rosenkränze flechten. Wie wird Euer volles Gesicht strahlen unter dem Kränzlein, Herr Fischer, gleich einem Vollmond! Ihr, Muhme Brotkorbin, nehmet beileibe keine Weizenbierhefe in den Hochzeitskuchen; die ist allezeit bitter, und dieweil der Hochzeitskuchen ein treues Fürbild wird vom zukünftigen Ehestand, so muß man sorglich Alles vorher bedenken.“
Barbara machte ein wichtiges Gesicht. „Wir werden uns gewißlich mit unserer Hochzeit einen guten Leumund machen, sintemalen wir etwas Erkleckliches darauf gehen lassen. Die Stadtpfeifer sollen uns zur Trauung blasen. Mein Vater richtet einen Schmaus aus, zu dem zwei Ochsen und sechs Schweine gemästet werden. Zwölf Frankenhammel kommen nächste Woche über den Wald. Ein Stückfaß Würzburger Wein liegt schon im Keller.“
„Das wird eine Hochzeit!“ rief die Muhme begeistert. „Da kann gewiß die Stadt auf keinem Beine mehr stehen.“
Alle blickten Johannen spöttisch von der Seite an, als wäre ihr ein Streich gespielt worden, nicht als habe sie einen Korb ausgetheilt. Sie ging heim. Sie gönnte Bärbchen ihr Glück und den Bräutigam mit dem rosenumkränzten Vollmondshaupt. Neid war ihr gänzlich fern geblieben. Dazu hatte ihr Hermann den Katechismus zu pünktlich eingeprägt. Aber sie bewegte den finsteren Gedanken hinter ihrer gesenkten Stirn: warum bescheert Gott dem Nikel und der Bärbe, dem Zacharias und der Marzibilla, was sie sich wünschen, die Gesponsen, die ihnen behagen, ja sogar den goldbortirten Mantel und das plümerantene Kleid, und sie stehen doch an getreulicher Pflichterfüllung und spröder Ehrbarkeit tief unter mir? Und mir thut er den Weg zum Glück nimmer auf. Und über dem Brüten ging ihr der Friede wieder verloren, den sie aus der Gewißheit geschöpft hatte, daß in hundert Jahren Alles überstanden sein würde. Denn diese waren noch lange nicht um. Sie mußten Minute für Minute durchlebt werden, und ihr Gefährte auf diesem öden Weg war der Liebeskummer, welcher sich durch kein Sinniren und Speculiren hinweg disputiren läßt.
Aber ob Johanne auch vermeinte, die traurigen Tage trügen
Blei an den Füßen, wie sonst die fröhlichen Flüglein an den
Schultern, sie gingen doch dahin, und der milde Herbstmond war
da, ehvor sie sich dessen versah. Die Blätter, die im Lenz frisch
grün herfür gesproßt waren, färbten sich falb, die Blüthen reiften
zu Früchten.
Die Arnstädter schafften rüstig, daß sie die Ernte unter Dach und Fach brachten. In den Hopfengärten ertönten Zinken und Fiedeln, dieweil das würzige Kraut von den Stangen gestreift wurde, von den Feldern schallten Schnitterlieder zu dem Klang von Sense und Sichel.
Auch die Henning’sche Sippe heimste ihr Obst im Baumgarten ein. Bastian saß auf dem thurmhohen Grafgüntherbirnbaum und schüttelte, während Trine die herunterprasselnden goldgelben Birnen in ihre Schürze sammelte; von dem Pfersingbaum brach Christel die mit röthlichen flaumigen Bäckchen angehauchten Früchte. Und Benjaminlein las die braunen Maulbeeren auf, indem er das Sprüchlein sagte, das Hannchen ihm als Lehre gegeben hatte: „Die guten in’s Töpfchen, die schlechten in’s Kröpfchen;“ manchmal gerieth es dem kleinen Schelm auch umgekehrt. Frau Henningin aber schichtete in luftiger Kammer ihren Erntesegen auf.
Johanne hatte Niemand zur Hand, der den Abendtrunk holen konnte. Da nahm sie selbst die hölzerne Schleifkanne und ging nach dem Bier. Bei Nicolaus Fischer war es ausgethan. Um den großen Brunnen, der mitten auf dem Riethplatz rauschte, lagerten Fässer, die gespült wurden; im weiten Hof des Christophel-Hauses ertönte das Klopfen des Böttchers, hantirten die Bierschröter mit den Pechpfannen um riesige Tonnen. Die lange
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_823.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)