Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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mich fortgeschickt,“ fuhr er fort, „sie untersuchen die Wunde. Da bin ich denn nach Hause gelaufen, um meine geschäftlichen Angelegenheiten nothdürftig zu ordnen, und dann will ich zu den grauen Schwestern, um mir eine Krankenpflegerin zu erbitten. Wann ich wieder den Platz an meinem Arbeitstisch einnehmen werde, weiß ich nicht. Mein armer, armer Junge!“
„Zu den grauen Schwestern geh nicht, Onkel Benjamin,“ bat das Mädchen. „Laß mich seine graue Schwester sein. Wir wollen einander am Krankenbette ablösen: ich thue dort den Tag über Dienst, Du in der Nacht … oder auch umgekehrt; ich fürchte die Nacht nicht.“
Das vergrämte Gesicht erheiterte sich ein wenig. „Du wolltest –? Ah! das ist freundlich, das ist gütig. Aber – ich weiß doch nicht, ob Walter …“
Sie senkte den Kopf. „Du meinst, Walter könnte mich gar nicht sehen wollen – lieber eine Fremde, die ihm ganz gleichgültig ist. Freilich – so lange ich hier bin, ist er nicht ein einzig Mal gekommen. So sehr bin ich ihm zuwider geworden.“
„Nicht doch, Lenchen, nicht doch,“ suchte er in seiner Gutmüthigkeit zu beruhigen. „Er wollte Dir nur ganz freie Hand lassen. Aber wie dem auch sei … weißt Du, ich will ihn fragen – wenn die Aerzte es erlauben, Lenchen; und ich schicke Dir dann ein paar Zeilchen zur Information.“
Sie drückte seine Hand. „Oder besser noch, ich komme gleich mit Dir, Onkel,“ sagte sie, „und warte draußen auf die Entscheidung. Wenn Du wüßtest, wie bedrückt mir das Herz ist –“
Davon wollte er aber nichts hören. Einer müsse doch auch des Geschäfts wegen zu Hause sein, damit die Kunden Auskunft erhalten könnten. Er wolle die Antwort schon möglichst beeilen.
So ließ er sie denn in großer Sorge zurück.
Doch wallte mitunter auch ein freudiges Gefühl in ihr auf.
Traurig genug war’s wohl, daß die Kugel ihn getroffen hatte; aber er lebte ja, und was er gethan hatte, hatte er für sie gethan, was er litt, litt er für sie. Sie betete recht inbrünstig zu Gott, daß er ihm das Leben erhalten wolle, und gelobte sich, ihm bis zum Tode treu anzuhängen, auch wenn sein stolzes Herz sie jetzt abwiese.
Onkel Benjamin schrieb nicht, aber er kam vor Abend noch einmal selbst. Walter’s Secundant habe ihn auf eine Stunde abgelöst. Er erzählte, daß die Kugel glücklich aufgefunden sei und der Zustand des Kranken nach Versicherung der Aerzte zur Zeit nicht ungünstig genannt werden könne. Das alte Gesicht schaute wieder etwas heiterer drein. „Und darf ich –?“ fragte Helene, doch recht zaghaft. Sie hatte sich auf ein Nein gefaßt gemacht, oder bildete sich wenigstens ein, darauf gefaßt zu sein. Um so dankbarer war sie für sein freundliches Kopfnicken. „Aber heute nicht,“ dämpfte er sogleich, „und die Nacht über bleibe ich bei ihm. Morgen früh kannst Du Dich melden.“
Am andern Morgen war Helene schon früh auf. Sie meinte, daß Onkel Benjamin dringend der Ruhe bedürfen werde; eigentlich war’s wohl ihre eigene Unruhe, die sie von Hause forttrieb. Die Wirthin Walter’s öffnete ihr. Sie solle nur leise anklopfen, sagte sie, der Kranke liege im zweiten Zimmer und werde nicht gestört. Grün war schon durch das Läuten aufmerksam geworden und kam auch ohne ihre Meldung heraus. Die Nacht sei gut gewesen, versicherte er. Nach Hause wollte er sich nun aber durchaus nicht schicken lassen; jedenfalls müsse er noch den Morgenbesuch des Arztes abwarten. Helene fügte sich, da Widerspruch doch vergeblich gewesen wäre. Grün nahm sie in das vordere Zimmer mit und bedeutete sie, sich ganz still zu verhalten. Er ließ sich nun wenigstens bewegen, sich auf’s Sopha zu legen und zu versuchen, ob er ein Stündchen schlafen könne.
Sobald Walter sich ein wenig räusperte, war er doch wieder auf. „Warte, ich will Dich anmelden,“ sagte er. Sie hörte, daß Walter nach ihr fragte. Gleich darauf winkte ihr der Alte durch die Thür.
Im Krankenzimmer brannte eine Lampe. Walter sah zum Erschrecken bleich aus; die Bettdecke war bis zum Halse hinaufgezogen. Er grüßte durch eine Bewegung des Kopfes und durch einen Blick der Augen, der sie eines herzlichen Willkommens schien versichern zu wollen. Sie trat mit leisen Schritten an sein Bett. „Walter –“ sagte sie. Die Stimme zitterte heftig, und sie brachte keinen Laut weiter heraus. Auch er schwieg einige Secunden lang. Dann sagte er: „Ich würde Dir die Hand reichen, Helene, wenn der Arzt mir nicht anbefohlen hätte, ganz still zu liegen. Aber nimm an, es sei geschehen.“
Sie bückte sich schnell und küßte seine Stirn und seinen Mund. „Rühre Dich nicht,“ bat sie.
Eine leichte Röthe überflog sein Gesicht; er drückte einen Moment die Augen zu.
„Meinetwegen leidest Du, Lieber,“ sprach sie weiter und legte die Hand auf seine Schulter.
„Davon rede nicht,“ antwortete er. „Ich that, was ich für meine Pflicht hielt. Andere mögen mich deshalb unvernünftig schelten.“
„Aber ich darf Dir doch danken?“ fragte sie. „Auch dafür, daß Du mich in Deiner Nähe dulden willst,“ fuhr sie fort. „Sprich jetzt nur gar nicht mehr, es könnte Dir schaden. Onkel Benjamin wird mich unterrichten, was ich zu thun habe, und dann soll der leiseste Augenwink genügen.“
So wurde sie ihm die gewissenhafteste Pflegerin. Auch als sich ein heftiges Wundfieber einstellte, ängstigten sie seine Phantasien nicht fort. Sie wich nicht von seinem Bette. Als sein Zustand sich dann besserte, wußte sie Grün zu bestimmen, sich sein Bett in’s Krankenzimmer stellen zu lassen, um sich Abends schlafen zu legen. Doch vergingen viele Wochen, bis die Wunde sich schloß und der Kranke ausgehen durfte.
Helene las ihm Stunden lang vor, oft aus gelehrten Büchern, die er zu seinen Studien brauchte, schrieb nach seinem Dictat, spielte geduldig mit ihm Schach – nicht nur geduldig, sondern auch aufmerksam, da sie wohl sah, daß er ungern allzu leichte Siege errang. Sie wurde mit der Zeit eine ganz tüchtige Spielerin, gewann sogar auch hin und her eine Partie. Sobald er gehen durfte, führte sie ihn im Zimmer auf und ab. Sie brachte allezeit gern das Gespräch auf ernste und schwierige Dinge, in denen sie ihn gut unterrichtet wußte. Sie hatte ihre Freude daran, ihm zu beweisen, daß sie mit gutem Verständniß gelesen oder von ihm gelernt habe.
Den Tag über wirthschaftete sie wie eine kleine Hausfrau. Sie kochte den Kaffee auf einer zierlichen Maschine, die der Onkel zum Gebrauch für Zwei angeschafft hatte; sie ordnete den Frühstückstisch und machte für denselben kleine Einkäufe. Sie theilte mit ihm das Mittagessen, das aus dem Speisehause herangetragen wurde. Da Walter gern Früchte aß, so war stets ihr erster Gang zu der Obsthändlerin an der Börse, die in dem Ruf stand, über eine ausgesucht schöne Waare zu verfügen. „Du verwöhnst mich,“ schalt er. „Wie soll mir’s dann später behagen?“
Eines Tages war er augenscheinlich in ganz eigen erregter Stimmung. Das Gewöhnlichste, was er vornahm oder was die Tagesordnung ergab, behandelte er mit einer gewissen Feierlichkeit. Es dauerte schon merklich lange, bis der Morgenkaffee ausgeschlürft war. Dann sollte beim Frühstück die angebrochene Flasche Wein durchaus ganz ausgetrunken werden, und das Glas, das die Neige enthielt, setzte er nicht an die Lippen, ohne vorher damit ihr Glas zu berühren und dabei einen guten Wunsch auszusprechen. Die Beschäftigungen, die sonst nach Bedürfniß des Tages gewechselt hatten, schienen nun sämmtlich gleichsam schnell repetirt werden zu müssen. Immer wieder versuchte er einen scherzhaften Ton anzuschlagen, um doch bald die ernsteste Seite seines Wesens vorzukehren. Gegen Abend, etwa eine Stunde vor der gewohnten Ablösung Helenens durch den Onkel, schien er unruhig zu werden, klappte das Buch zu, aus dem er vorgelesen hatte, und ging im Zimmer auf und ab, während sie mit ihrer Handarbeit am Fenster sitzen blieb. Wenn sie ihrem feinen Gehör trauen durfte, seufzte er ein paar Mal leise.
Endlich blieb er vor ihr stehen, kreuzte die Arme über der Brust und zog sie fest zusammen, als ob er sich selbst fesseln wollte. „Es muß doch gesagt sein, Helene,“ begann er, „so schwer es mir fällt. Ich bin gesund und gedenke in nächster Zeit meine gewohnte Thätigkeit wieder aufzunehmen. Laß Dir also herzlich danken für alle Deine Güte und treue Pflege. Du hast mir recht freundschaftlich wohlgethan. Nun aber ist’s meine Pflicht, selbst die Grenze zu ziehen. Dieser Tag muß der letzte Deines Pflege-Amts gewesen sein. Es ist mir recht betrübt zu Muth, als ob ich einen Abschied zu nehmen hätte.“
Helene hatte die Hände mit der Arbeit in den Schooß sinken lassen und sah mit ängstlichen Blicken zu ihm auf. Plötzlich rollten große Thränen über ihre Wangen – ungehindert, unaufhaltsam
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_800.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2023)