Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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ohne Köpfe nach dem Gottesackerthor gegangen und die Thüren der alten Erbbegräbnisse sind aufgesprungen. Als in der Papiermühle ein Maulwurf einen Hügel aufwarf, da habe ich gesagt: Frau Muhme, das hat was zu bedeuten. Der alte Papiermüller meinte zwar: Seid ruhig, Frau Tochter, es wird mich bedeuten; glaubte ich doch schon, der liebe Gott habe mich vergessen. Beruft’s nicht! warnte ich, sonst lebt Ihr bis in alle Ewigkeit. Richtig, die Jungen mußten voran.“
„Ich weiß; Herr Henning –“
„Hat das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt,“ nickte der Pfauenschweif und, die Hände faltend, fügte sie hinzu: „Herr Gott erbarm Dich über ihn. Amen. Und so begraben werden ohne Leichlaken, ohne jegliche Ehre. Was hätte der stolze Mann sonst für eine schöne Leiche gegeben!“
„Um Gottes Barmherzigkeit willen, lebt Hannchen noch?“
„Ich weiß nicht. Gestern Abend war sie noch lebendig. Sie holte Wasser vom Brunnen, denn die Leute sind natürlich davon gelaufen, und die alte Trine hat die drei Kinder in das Lusthäuslein im Brunnengarten geflüchtet, auf daß nicht das ganze Haus aussterbe. Und der Zacharias ist zu weit fort. Es kann auch kein Mensch von ihm verlangen, daß er der Pest in den Rachen rennen soll.“
Hermann hörte nicht mehr. Er eilte über den Markt der Papiermühle zu.
Auf der Schwelle begegnete ihm der Superintendent. Der Sitte der kriegerischen Zeit gemäß, war er wie ein tapfrer Obrist mit Schnauz- und Kinnbart zu schauen. Die silberne Hostienkapsel trug er in der Brusttasche des Ornates, den Kelch in der Hand, da der Küster seiner Kirche selbst auf den Tod lag.
Ein freundlicher Strahl aus seinem muthvoll blickenden Auge fiel auf Hermann. „Du kommst als Hülfe in der Noth,“ sprach er. „Das ist brav. Der feurige Zorn Gottes ist über uns; doch dürfen wir darob nicht verzagen. Er bleibt unser gnädiger Gott und Vater, deß hat er uns gute Briefe und Siegel gegeben in seinem Wort und Sacrament. In seinem Namen magst Du getrost in die Brutstätte der Pestilenz gehen.“
Und den durch einen dreißigjährigen Krieg erstrittenen Kelch hoch hebend, wie die Waffe gegen Hölle und Tod, schritt er von dannen.
Mit zitternden Knieen trat Hermann in das Haus, das seiner Jugend Heimath gewesen war. Nichts regte sich. Die Mühle stand still. Nur das Wasser rauschte. In dem Flure lehnte ein langer schmaler Kasten, von rohen Brettern gezimmert. Kein gemaltes Sprüchlein zierte ihn, keine Blume lag darin. Es war schon ein Vorzug, mit schwerem Geld erkauft, einen eigenen Sarg zu haben, nicht in die gemeinsame Grube geworfen zu werden. Ein Stöhnen drang aus dem Mühlraum. Hermann öffnete die Thür. Da lag auf dem Stroh, entstellt durch die Flecken des schwarzen Todes, weiland Herr Henning, der große Bürger, der sich noch vor Kurzem rühmte, daß er vor Kreuz und Leiden besser geschützt sei, als der arme Hiob. Eine zusammengebrochene Gestalt knieete daneben.
„Hannchen!“ rief Hermann entsetzt.
Sie richtete sich auf. Aus einem todtenblassen, qualvoll verzerrten Gesichte starrten ihn verzweiflungsvolle Augen an. Ob sie ihn erkannte, wußte er nicht.
„Ich kann ihn nicht allein heben und in den Sarg tragen,“ sprach sie mit heiserer Stimme, „und es kommt uns Niemand zu Hülfe.“
„Ich bin da, ich helfe Dir,“ sprach er ihr tröstend zu.
„Du,“ flüsterte sie, „immer Du.“
Sie hoben zusammen die Leiche auf und legten sie in die Todtenlade. Dann knieete Hermann nieder und zog Hannchen an der Hand heran; sie war so kalt wie die des Todten. Sie folgte gleich einem fühllosen Wesen. Er faltete ihre Finger.
„Sprich mit mir ein letztes Gebet,“ sagte er sanft. „Vater unser, der Du bist im Himmel.“
Sie plapperte es nach.
„Dein Wille geschehe.“
Sie stockte.
Er sprach ihr noch einmal die Bitte vor.
Sie preßte die Lippen zusammen. Aber plötzlich riß sie die Hände aus einander und schrie wild auf: „Nein, nein, ich kann nicht. Ich ertrage es nicht. Die Hand des Herrn ist zu schwer. Du weißt nicht, wie es thut.“
„Ich weiß es nicht?“ wiederholte er mit zuckenden Lippen. „Ich habe es meiner sterbenden Mutter nachgebetet. Ich habe es lernen müssen als achtjähriges Kind, und die Hand des Herrn lag noch schwerer auf mir: es blieb mir kein Herz. Nichts, nichts auf der weiten Gotteswelt ist mir geblieben!“ fügte er mit ausbrechendem Schmerze hinzu. „Aber ich habe es erprobt in tiefem Leide, daß mein Mütterlein Recht hatte, wenn sie sprach: Wir armen Erdenwürmer haben kein Gebet weiter vonnöthen, als das eine: Dein Wille geschehe. So wir uns in die Hand des Herrn ergeben, giebt er uns seinen Frieden.“
Vor Johannens Blick tauchte wie aus weiter Ferne das Bild der blassen Frau im grauen Linnenrocke auf, die Sonntags ein Mittagessen in der Papiermühle holen durfte. Die Kleine hatte es ihr gereicht; denn die Eltern ließen gern den Segensspruch der Armen den Kindern zu Gute kommen.
Das hatte damals Niemand gedacht, daß des armen Weibes demüthige Gedanken dereinst dem erstgeborenen Töchterlein des reichen Hauses in tiefer Noth helfen würden. Und doch war es also. Die Erkenntniß, bei Unglück und Leid in großer Genossenschaft zu sein, sänftigt das eigensüchtige Menschenherz.
Die altvertraute Stimme, die allezeit nur Liebes und Gutes zu ihr geredet hatte, löste den Krampf, und als er jetzt die schweren Worte noch einmal zu ihr sprach, fest und demüthig, wie ein geprüftes Herz sie eingiebt, da sprach sie sie stockend nach, und plötzlich sprang der Bann, den die Verzweiflung um die junge ungebeugte Seele gelegt hatte, und sie brach in heiße Thränen aus.
Hermann ließ sie ausweinen. Dann sandte er sie zu der besinnungslos in heftigem Fieber liegenden Mutter und ermahnte sie, ihrer treulich zu pflegen. Er selbst ging in die Kammer des alten Großvaters. Der Greis wandte mühselig sein Haupt nach ihm. Er strengte die eingesunkenen Lippen an, mit dem alten Gruße ihn zu grüßen: „Deinen Eingang segne Gott!“ Die Worte verliefen in unverständlichem Flüstern. Mit zitternder Hand winkte er Hermann heran. Dieser mußte sich tief über ihn beugen, um zu verstehen, wie er mit ersterbender, stockender Stimme hauchte:
„Bin gestärkt durch das heilige Abendmahl zur großen Reise in das Paradies. Nun lies mir das Lied: ‚Mit Fried und Freud ich fahr dahin‘, wenn es auch nicht recht in die Zeitläufte sich schicken will. Ich hatte es mir ausgesucht, daß die Currende es bei meinem Leichenbegängniß singen sollte. Hatte gemeint, der liebe Gott werde mir ein friedsameres Sterbestündlein schicken.“
Hermann las. Und da er mit dem Vers zu Ende gekommen war, hatte der alte Großvater nach den letzten Worten desselben gethan, die lauteten: ‚der Tod ist mein Schlaf worden.‘
Frau Henningin lag bewußtlos. Sie vernahm den Hammerschlag nicht, der die zwei Särge zunagelte; sie hörte das Poltern des Leichenkarrens nicht, welcher zweimal vor der Thür anhielt; ihr Ohr blieb verschlossen dem Summen der Todtenglocken, die für und für ihre Gemeindeglieder auf dem Grabespfad geleiteten.
Johanne hatte allein das schwere Kreuz zu tragen. Aber sie war nicht mehr verlassen. Hermann stand ihr zur Seite wie in vergangenen seligen Jugendtagen, die ihrem darniedergebeugten Gemüth weit zurück, wie in einem früheren Dasein, zu liegen schienen.
Damals war sie seine Beschützerin gewesen; jetzt, da das Leid Einspruch gehalten hatte, trat er für sie ein. Er wußte besser Bescheid als sie, wie man dem Unglück begegnen mußte. Seinem sanften Zuspruch gelang es, sie zu überzeugen, daß es ihr da nichts half, wenn sie zornig aufbrauste und anklagte, aber daß sie allmählich selbst das Schwerste überwinden konnte, wenn sie den Weg der Pflicht ohne Wanken ging, auf daß kein Vorwurf in ihrer Seele sich einzunisten vermochte.
Sie that, wie er wollte. Unermüdlich wachte sie bei der kranken Mutter und zollte ihr all die Fürsorge, die sie dem Vater, dessen Lieblingskind sie gewesen war, nimmermehr erweisen konnte. Aber wenn die wirren Fieberreden der Kranken in leisen Schlummer übergingen, und sie Ruhe bekam, dann brach wieder der heiße Schmerz aus. Dann setzte er sich zu ihr in die düstre Krankenstube an das Lämpchen, dessen Docht zurückgeschoben war, auf daß es nicht zu hell schimmere.
Und er sprach ihr von seiner leidensvollen Kindheit, von seinem elterlichen Haus an der Mauer, das wegen der mangelnden Rückseite in Arnstadt nur das Sterbekleid genannt wurde. Er
erzählte, wie die Kriegsfurie es heimsuchte und das letzte Besitzthum
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_791.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)