Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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seitdem wir dieses Kind unser nennen dürfen; sie sind unbeschreiblich!“
So könnten wir noch viele Mittheilungen bringen, die alle voll sind der Beschreibung des Glückes, welches der Besitz eines Kindes gewährt.
Wer so gute Erfolge veranlaßt und gesehen, dem liegt der Wunsch nahe, die gute Wirkung, das wahrhaftige Seelenheil dieser Kinder- und Elternverbindung zu möglichster Ausbreitung zu bringen. Dieses Ziel im Auge, will ich, wie oben angedeutet, hiermit darzulegen versuchen, nach welchen Grundsätzen dabei bisher verfahren worden ist und wohl ferner auch verfahren werden muß.
Die Kinder, Voll- oder Halbwaisen, die wir zur An- und Aufnahme anbieten sollen, müssen geistig und körperlich völlig gesund und wohlgebildet sein. Die Confession der Kinder kommt bei uns nicht in Frage; nur wird stets darauf Bedacht genommen, daß womöglich Pflege-Eltern und Kinder gleicher Confession sind.
Wenn ein Elternpaar das Schicksal trifft, ein armes unglückliches Kind, das geistig und körperlich gebrechlich ist, zu erhalten, so ist es das eigene Kind, das ja wunderbarer und rührender Weise von den Elternherzen mit um so höherer Liebe umfaßt und gepflegt wird, je unglücklicher dasselbe an sich ist. Dieser Fall, kann aber auf Adoptiveltern keine Beziehung finden.
Da die Eigenart der Eltern sich zum Theil auf die Kinder mit überträgt, wenn auch die Erziehung auf die Anlage ihren verwandelnden Einfluß ausübt, so ist es nöthig, daß die Eltern der Waisen, die uns zur Versorgung übergeben werden, nicht nur geistig und körperlich gesund waren, sondern daß sie auch, wenn schon arm, sich doch recht und schlecht in Ehrbarkeit durch’s Leben zu schlagen suchten. Es muß nachgewiesen werden können, daß die Eltern ohne Verschulden in Armuth gerathen sind, und bei Halbwaisen, daß der überlebende Theil nicht im Stande ist, die Kinder ohne Schaden für sie selbst zu erziehen. Auch auf die Kinder solcher Unglücklichen, die mit eigener Hand den Lebensfaden durchrissen, muß sich die Aufmerksamkeit der Waisenversorgung erstrecken.
Noch haben wir eines schwierigen Punktes zu erwähnen, es ist der der „ledigen Kinder“. Wir können unmöglich die Versorgung solcher unglücklichen Kinder, die bei der Geburt meist schon Waisen, mindestens vaterlose Waisen sind, von vornherein Ablehnen. Sobald sich Eltern finden, die vorurtheilsfrei genug sind, sich eines solchen armen Kindes anzunehmen, werden wir die Letzten sein, die in falscher sittlicher Entrüstung diese Kinder lieber dem Elend preisgeben, anstatt ihnen die helfende Hand zu bieten.
Am nöthigsten ist die Versorgung von Vollwaisen, die der Armencasse einer Gemeinde zur Last fallen. Ist ein Waisenhaus gut geleitet und eingerichtet, das heißt ist das Familienprincip vorherrschend, so kann es ja Gutes leisten. Aber nur sehr große Gemeinden sind im Stande, entsprechend eingerichtete Waisenhäuser zu gründen und zu unterhalten. Kleinere Gemeinden müssen sich begnügen, vater- und mutterlose Kinder in Pflege oder, wie der landläufige Name sagt, in „Ziehe“ zu geben. Häufig sind die armen Kinder dann nur dazu da, Brod mit erwerben zu helfen. Das Kind hat da in der Regel eine trostlose Gegenwart und meist eine noch schrecklichere Zukunft.
Daß vater- und mutterlose Waisen bei der Versorgung zuerst berücksichtigt werden müssen, steht außer allem Zweifel: es gelingt diese auch gewöhnlich weit eher, als bei Halbwaisen. Gemeinlich wird auf Kinder, deren Vater noch lebt, wo der erwerbende Theil, der Eltern also noch für die Kinder sorgen kann, nur dann Rücksicht genommen, wenn der Vater durch Krankheit dauernd erwerbsunfähig ist.
Anders ist es mit vaterlosen Kindern, besonders dann, wenn deren mehr als vier vorhanden und wohl auch diese zum Theil noch klein sind. Die arme Mutter ist nicht im Stande, das tägliche Brod zu erwerben und zugleich die Kinder zu erziehen. Mangel, Entbehrung und Ordnungslosigkeit ist das Loos solcher armen Halbwaisen. Da wird zu helfen gesucht, sobald man kann. Doch ist dies ohne schwere Opfer der Mütter nicht möglich.
Erstens muß die Mutter auf Rücknahme des Kindes verzichten, da jedes Elternpaar das angenommene Kind zu seinem eigenen erziehen will; zum andern muß die Mutter weiterer Einwirkung auf das Kind sich enthalten, denn das Kind soll eben die Pflege-Eltern als die seinen, als die wirklichen Eltern lieben und sich ihnen anschließen lernen. Man hat gesagt, es sei zu viel verlangt, daß sich eine Wittwe von ihrem Kinde ganz trennen solle. Schwer ist’s gewiß; aber im Interesse der Erziehung und der Zukunft ihrer Kinder wird eine gute Mutter selbst das Schwere auf sich nehmen und im belauschenden Anblick des Gedeihens ihrer Lieben Beruhigung finden.
Zu Eltern eines armen Waisenkindes eignen sich am besten solche Ehegatten, denen entweder eigene Kinder versagt, oder die geschenkten Kinder wieder gestorben sind, und die keine Hoffnung haben, selbst wieder mit Kindern beglückt zu werden. Nur in sehr seltenen Fällen werden angenommene Kinder die rechte Liebe erfahren, wenn eigene Kinder da sind, und doch bedürfen jene der wärmsten Liebespflege.
Es versteht sich wohl von selbst, daß Eltern, die ein solches Liebeswerk ausführen wollen, pekuniär so gestellt sind, daß sie ohne Beschwerde die Opfer, die damit selbstredend verbunden sind, tragen können. Unsere Kinder besitzen gewöhnlich nur das, was sie auf dem Leibe tragen. Es müssen die Kosten der Ueberführung oder Abholung, oft wegen der großen Entfernung ziemlich bedeutend, getragen werden, es will Wäsche, Kleidung, Schuhwerk, Bett u. dergl. m. besorgt sein.
Sollte das Kind Ursache einer Beschränkung in der gewöhnlichen Lebensweise, in den gewöhnlichen Genüssen werden, so fällt schon ein Reif auf die aufsprießende Liebe der Eltern, und gar oft tödtet der anklopfende Mangel als ein kalter Nachtfrost die ersten Blüthen. Ferner müssen unsere Eltern gemüthvoll, gütig und liebevoll sein. Nicht so, daß sie das Kind fortgesetzt mit den zärtlichsten Namen rufen, alle Wünsche desselben erfüllen, sondern so, daß sie die Verlassenheit des verwaisten Kindes selbst empfinden und dem Kinde das Gefühl beibringen, daß innige Liebe und herzliche Zuneigung Alles leitet und Alles bestimmt, was dem Kinde gut ist und was es erfährt. Darum ist vor Allem die aus solcher Liebe hervorgehende Geduld nöthig. Es ist richtig, jedes Kind hat seine Fehler und muß erzogen werden. Kinder aber, die vielleicht längere Zeit ohne richtige Erziehung waren, haben natürlicher Weise mehr Fehler, als solche, die von der ersten Stunde ihres Daseins an ohne Unterbrechung in folgerichtiger Zucht gestanden hatten. Die Erziehung solcher Kinder erfordert eine um so größere Geduld.
Nicht minder ist es aber auch nöthig, daß die Eltern den Ernst der Strenge zu rechter Zeit walten lassen. Wo nicht liebender Ernst und unter Umständen auch strenge Zucht waltet, kommt ein solches Kind vom Regen unter die Traufe. Es ist auch ganz gut, daß die Kinder nicht als vollkommene Wesen übernommen werden. Die Erziehung, die Abgewöhnung mancher Fehler, die Gewöhnung zu allem Guten ist neben der körperlichen Pflege in ihrem Erfolge sehr oft ein besonders festhaltender Kitt inniger Liebe zwischen Pflegekind und Eltern. Weiter müssen unsere Eltern sich völlig der Schwierigkeiten bewußt sein, die mit der „Annahme eines Kindes für immer“ verbunden sind. Denn wer ein Kind durch die Waisenversorgung der „Gartenlaube“ bekommt, erhält es für immer und kann es nicht nach Belieben zurückgeben. Es ist schon Elend genug, in Armuth und Noth aufwachsen zu müssen; das Elend wird aber unerträglich, wenn ein Kind, nachdem es die Annehmlichkeiten eines behaglichen Hausstandes, das Glück einer geordneten Ernährungs- und Erziehungsweise kennen gelernt hat, wieder zurückgestoßen werden soll in die uranfängliche Noth. Darum ist es auch völlig unthunlich, Kinder auf Probe in die suchende Familie zu geben.
Es ist nichts Leichtes, ein fremdes Kind als das seine mit hingebender Liebe und opferwilliger Zuneigung an sein Herz zu ziehen, und Alle, die durch unsere Vermittlung ihren Wunsch erfüllt erhielten, werden bezeugen, daß es ihnen nicht leicht gemacht worden ist. Es erfordert eben die Annahme und Erziehung eines fremden Kindes fast eine größere Liebe, Geduld und Hingebung, als die Erziehung eigener Kinder, und wer sich darüber nicht klar ist und nicht in sich die Kraft zu solcher Hingabe fühlt, mag lieber das schöne Werk nicht beginnen. Besonders gilt dies von den Müttern. Der Vater kommt immer nur in Frage bei Anforderungen an den Geldbeutel; die Mutter aber, die den ganzen Tag sich des Kindes annehmen, selbst bisweilen die Nachtruhe opfern muß, kommt mit ihrer persönlichen Kraft in Frage. Also ein überwallendes Gefühl, eine auflodernde Sehnsucht,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_767.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2023)