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Seite:Die Gartenlaube (1883) 760.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Ihr Blick glitt seitwärts nach ihm hinüber. Sie sah, wie er gänzlich darniedergeschmettert war. Nun wird er inne, wie weit er kommt, wenn ich die Flügel nicht über ihn breite, dachte sie. Aber sie schützte ihn diesmal nicht. Ihre sonst stets hülfsbereite Thatkraft war in Banden gelegt durch ihren verletzten Mädchenstolz. Ihr spröder jungfräulicher Sinn empörte sich gegen die Vorstellung, daß ihre Zuneigung zu Hermann, die sie voll Selbstgefühl das Mitleiden ihres großmüthigen Herzens nannte, anders ausgedeutet wurde. Und jache Naturen wehren sich gegen Mißbehagen und Schmerzen, indem sie sich in das kräftigere Gefühl des Zornes retten.

„Das hast Du nun davon! Dir geschieht ganz recht!“ rief sie mit glühendem Antlitze und eilte hastig hinaus.

Ihr Vater sah ihr gelassen nach und fuhr fort: „Dein Gewandzeug wird meine Frau Eheliebste beschicken; der Nachbar Thorwart soll in dieser Nacht bereit sein, das Pförtlein zu öffnen; und hier heißt es, Du seist in die Welt gegangen, Dein Glück zu versuchen.“

„Mein Glück?“ flüsterte Hermann bitter.

„Entscheide Dich!“ schloß der Papiermüller. „Soll ich Dich mit einem Zeugniß an den Hüttenmeister nach Gehren empfehlen? oder mit einem Zehrpfennig gen Gotha entlassen?“

(Fortsetzung folgt.)




Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel.00Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
V.
Das Rückgrat des nordamerikanischen Continents. – Pacificbahn-Städte. – Allerlei Felsengebirgsvolk. – Das Mormonenreich von heute. – Am Grabe Brigham Young’s.

Man hat die Rocky Mountains die Wirbelsäule des nordamerikanischen Continents genannt. Und ein solches Erdtheilsrückgrat sind sie in der That.

In einer eigenthümlichen Nebeneinander- und Uebereinanderfügung von Hochplateau- und Hochgebirgsformationen bedeckt das eigentliche Felsengebirgsgebiet die Territorien von Montana, Ost-Idaho, Wyoming, Colorado, Ost-Utah, Ost-Arizona und Neu-Mexico – Alles in Allem ein 650,000 englische Quadratmeilen messendes Areal. Viele der Naturwunder, welche in diesen Bergen das Auge des Beschauers entzücken, haben wir schon in unsern frühern Schilderungen kennen gelernt; heute führt uns der Maler eine zerklüftete Felsenlandschaft vor, die zu den großartigen Ansichten des Yellowstoneparks den grellsten Gegensatz bildet. In solche Gegenden sind die ersten Einwanderer gedrungen, und auf Grund ihrer Berichte hielt man das ganze Felsengebirge wohl mit Unrecht für ein ödes, unfruchtbares Gebiet. Interessanter jedoch als die Schilderung dieser hier und dort wiederkehrenden endlosen Reihen kahlaufragender Felsen ist die Geschichte der Bevölkerung dieses Landstriches, deren Anfang und Ende auf der obenstehenden Vignette sinnreich angedeutet wird.

Einst war der Indianer der ausschließliche Gebieter dieser weiten Länderstrecken, und die Pionniere der Cultur, die sich in diese Wildniß hineinwagten, mußten mit der Waffe in der Hand ihr dürftiges Dasein sichern. Ihnen folgten dann die Anhänger des wunderlichen Mormonenheiligen Brigham Young, und schließlich erschien der Culturträger Dampf in jenen Einöden.

Die seitdem erfolgte völlige Umgestaltung in den Bevölkerungsverhältnissen des Felsengebirgswestens gehört zu jenen Entwickelungsmirakeln, wie sie nur Amerika kennt, und die man bei der Rapidität, mit der sie sich – in diesem Falle buchstäblich auf den Flügeln des Dampfes! – vollziehen, selbst hier unmöglich mehr lange wird beobachten können. Es lohnt sich daher wohl der Mühe, einen Blick auf diese junge Felsengebirgsbevölkerung und die eigenartig-ursprüngliche Civilisation zu werfen, in welcher sich hier eine regelrechte Zukunftscultur vorbereitet, wie sie selbst der größte Rocky Mountains-Enthusiast sich vor zehn Jahren noch nicht hätte träumen lassen.

Bret Harte hat in seinen californischen Goldgräbergeschichten mit der ganzen poetischen und charakterisirenden Kraft des Culturnovellisten von Gottes Gnaden blutsverwandte, in den nämlichen Grundbedingungen wurzelnde Erscheinungen geschildert. Schade nur, daß, als dieser amerikanische Poesiegoldfinder noch selbst Californier war, von der auf die Goldinvasion des fernsten Westens so bald folgenden Dampferoberung desselben noch keine Rede war; er wäre sonst der Welt neben seinen mustergültigen Schilderungen der Goldlager und Minenplätze sicherlich nicht die verwandte Meisterschilderung des für das Werden des Großen Westens ebenso typischen Pionniergemeinwesens der jungen Eisenbahnstadt schuldig geblieben.

Schon bei dem Bau der ersten Pacificbahnen in den sechsziger Jahren waren diese Eisenbahnstädte der Prairien und Felsengebirge eine Erscheinung, denen noch jetzt in den Namen Julesburg, Sydney, Rawlins und namentlich demjenigen von Promontory Point eine Art legendenhaften Interesses anhaftet. Gestern „an der Front“ des in die Wildniß hineingeschobenen Bahnbaues, Heer- und Kriegslagern gleich, aus der Erde gesprungen, hatten sie heute eine Bevölkerung von Tausenden mit dem zügellosen Treiben von Zehntausenden, um schon morgen ihre Schuldigkeit als zeitweilige Bahnendpunkte gethan zu haben, und übermorgen nach kurzem Todeskampf für immer zu verschwinden.


  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_760.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)