Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1883) 755.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Eine Locomotive, die mit ihrem eigenen Dampfe geheizt wird, dürfte manchen Leser an Münchhausen erinnern, der sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zog, und doch ist dieses Fabelding im buchstäblichen Sinne der Erfindungsgabe eines deutschen Chemikers, des Herrn Moritz Honigmann in Aachen geglückt, und haben damit bereits im Anfange des August vollgelungene Probefahrten auf der Pferdebahnstrecke Aachen–Haaren stattgefunden. Eine Locomotive von vier Pferdekräften wurde an einem feststehenden Dampfkessel mit einer Dampfspannung von drei Atmosphären Ueberdruck versehen und fuhr darauf ohne Feuerung und Rauch und ohne das gewohnte Geräusch zu machen, fünf bis sechs Stunden lang auf den Schienen umher, indem, wie gesagt, ihr eigener Dampf benutzt wurde, den Dampfkessel auf der nöthigen Temperatur zu halten, um lange mit ungeschwächten Kräften weiter arbeiten zu können. Das scheinbare Wunder beruht darauf, daß man eine concentrirte Salzlösung, die bei einem viel höheren Wärmegrade siedet als Wasser, durch eingeleiteten Wasserdampf allmählich zu einem höheren Temperaturgrade erhitzen kann, als ihn der eingeleitete Wasserdampf selbst zeigt. Die Honigmann’sche Locomotive besitzt nun innerhalb ihres eigentlichen Dampfkessels, dessen Wasser vor Beginn der Fahrt durch hineingeleitete gespannte Dämpfe auf etwa 145° erhitzt wird, einen zweiten, cylindrischen Innenkessel, der mit concentrirter Natronlauge gefüllt ist. In diese Flüssigkeit, welche erst bei circa 190° C. siedet, wird der verbrauchte Wasserdampf der Locomotive hineingeleitet und erhitzt dieselbe beständig so stark, daß sie fünf bis sechs Stunden lang dem sie umspülenden Wasser des Hauptkessels so viel Wärme abgeben kann, daß eine genügende Dampfspannung erhalten wird. Der Innenkessel mit seiner wärmesammelnden Laugenfüllung wirkt somit wie eine innere Feuerung des Hauptkessels, obwohl er seine eigene Wärme aus diesem empfängt. Daß hierbei nun trotz alledem keine Hexerei stattfindet, ergiebt sich daraus, daß nach einer gewissen Zeit (bei der Versuchslocomotive in fünf bis sechs Stunden) das Spiel aufhört und, die Kraft der Locomotive erschöpft ist. Alsdann ist nämlich durch das beständige Eintreten des Wasserdampfes in die Natronlauge diese so sehr verdünnt worden, daß ihr Siedepunkt nicht mehr hoch genug liegt, um dem Dampfkessel noch ferner Wärme abgeben zu können. Man muß sie dann wieder zu ihrer vorigen Stärke eindampfen, um sich ihrer von Neuem als Hitzesammlers bedienen zu können, und in diesem der Benutzung vorausgehenden Wärmeaufwand liegt somit die Lösung des Räthsels. In der eingedampften Lauge giebt man der Locomotive ein Vermögen mit, welches sich ebenso ausgiebt, wie jedes andere, nur daß die Schwächung hier in der Form einer Verdünnung mit Wasser stattfindet. Die in die Augen springenden Vorzüge dieser Locomotive sind, daß sie keiner Feuerung bedarf, somit gar keinen Rauch entwickelt, außerdem wenig Geräusch macht und noch weniger Explosionsgefahren darbietet, als eine gewöhnliche Locomotive, Vorzüge genug, um ihr eine bedeutende Zukunft zu sichern. C. St.     




Der Luther-Kopf zu Worms (Abbildungen S. 752 u. 753) am Luther Denkmal von Ritschel erhitzte jüngst in ungewöhnlicher Weise die Gemüther vieler Kunstbeflissenen. „Rietschel oder Donndorf“ war die Parole in den Fachblättern wie in der Tagespresse, und wie das in der Regel ist, für einen todten Künstler erheben sich mehr und wärmere Stimmen, als für einen lebenden. Donndorf hatte einen schweren Stand, doch hat die nicht gerade erquickliche Streiterei für ihn das Gute gehabt, mehr Licht in die ziemlich dunkle Entstehungsgeschichte des Wormser Luther-Kopfes zu bringen, und damit ist Donndorf von der Hauptanklage doch entlastet worden.

Gleich nach Einweihung jenes großartigen deutschen Denkmals ging eine dunkle Sage durch das Volk, der wichtigste Theil desselben, der Luther-Kopf, rühre nicht vom Altmeister Rietschel her, sondern sei eine Art Notharbeit seines Schülers Donndorf. Man wußte, Rietschel war während des Schaffens an jenem Werk auf den Tod erkrankt, und dann hatte man ein Gerücht vernommen, der Rietschel’sche Luther-Kopf sei wenige Tage vor dem Abschicken in die Gießerei durch einen Unfall in viele Stücke gebrochen und Donndorf, allerdings sein begabtester, sein Lieblingsschüler, habe in aller Eile einen neuen Kopf modellirt, der schon zwei Tage nach dem Unfall in die Erzgießerei verschickt worden sei.

Diese Sage, aus Wahrem und Falschem entstanden, ist nun im Laufe der Zeit vielfachen Wandlungen unterworfen gewesen. Es gab selbst Leute, die gar nicht an einen wirklichen Unfall glauben wollten, sondern von schülerhafter Anmaßung, Pietätlosigkeit, Uebergriffen und anderen schönen Dingen sprachen, die hier nur angedeutet sein mögen.

Zum Glücke für Donndorf und gewiß auch für den heimgegangenen Meister ist jetzt durch den erneuten Streit über den Luther-Kopf die klassische Zeugenschaft eines großen Zeitgenossen Rietschel’s zu Tage gefördert worden. Schnorr von Carolsfeld, der Bibel-Illustrator und Schöpfer jener gewaltigen Cartons, war mit Rietschel herzlich befreundet, er besuchte ihn häufig im Krankenzimmer, und endlich wurde er von dem dahinsterbenden Meister zum künstlerischen Testamentsvollstrecker ernannt. Das heißt, Schnorr sollte die Ausführung des Luther-Kopfes überwachen, er sollte Sorge tragen, daß die Intentionen, wie er sie in der verflackernden Seele trug, durch seinen Schüler Donndorf zur Ausführung gelangten.

Und nun mag das Tagebuch Schnorr’s selbst reden (1861):

„3. Februar. Sonntag … Sodann gehe ich nach dem Rietschel’schen Hause, wo, wie ich gehört, viel Sorge um den theuren Hausvater herrscht. Die liebe Frau Rietschel eröffnete mir mit wenigen Worten, daß Dr. Walther den Kranken gestern untersucht und das Uebel sehr vorgeschritten gefunden habe. Ich verstehe, was das aus dem Munde der Frau sagen will. Die Frau Professor meint aber doch, daß es Rietschel freuen werde, mich zu sehen, und er empfängt mich auch. Der Verfall ist sichtlich, dabei zeigt sich deutlich, daß Rietschel selbst klare Vorstellung von seinem Zustande hat. …
4. Februar. Montag … Nach drei Uhr begebe ich mich nach Rietschel’s Atelier. Wie mir Rietschel vorgestern (soll heißen: gestern) sagte, hat Donndorf aus des Meisters Auftrag an dem Kopfe der Luther-Statue mehrere Aenderungen vorgenommen. Rietschel wünscht, daß ich den veränderten Kopf nun sehe und mein Urtheil darüber ausspreche. Die Statue (in Gyps) steht im Garten, um die Wirkung im Freien beurtheilen zu können. Ich glaube, daß die Aenderungen Donndorf’s im Wesentlichen glücklich sind und die Individualität des Reformators kräftiger und charakteristischer geben. Einige Milderungen in der Ausprägung der Formen und Züge rathe ich an, um auf eine richtige Mitte zu lenken …
5. Februar. Dienstag … Ich gehe nach Rietschel’s Atelier, um zu sehen, was Donndorf noch an dem Kopfe gethan hat. Die Statue ist wieder unter Dach und Fach, Donndorf selbst nicht zugegen. Ich sehe aber den Kopf genau an und finde, daß derselbe seit gestern noch sehr gewonnen hat. Hierauf gehe ich zum Meister … und erstatte ihm Bericht über die Ausführung seiner Wünsche. Rietschel scheint sehr zufrieden zu sein mit der Weise, in welcher sein Auftrag ausgeführt worden ist …
7. Februar. Donnerstag … Nachmittag verfüge ich mich wieder in das Rietschel’sche Atelier, um den Luther-Kopf zu sehen, Donndorf hat die angerathenen Aenderungen gemacht, und ich glaube, der Kopf hat sehr gewonnen. Jetzt ist der Luther-Typus klar ohne Herbheit ausgeprägt, und der Kopf wird gut wirken. Aus dem Atelier gehe ich zu Rietschel in die Wohnung, um ihm Bericht zu erstatten … Rietschel findet sichtlich eine Beruhigung darin, daß ich mich seines Auftrages eifrig angenommen habe. Er wünscht nun noch, daß ich Seine Majestät den König, welcher demnächst die Luther-Statue sehen wird, empfange. Gern unterziehe ich mich auch diesem ehrenvollen Auftrag …
10. Februar. Sonntag … Gegen 4 Uhr mache ich einen Besuch bei Rietschel. Er sitzt im Kreise der Seinen … der arme Mann sieht sehr verfallen aus. Der Arzt meint nun selbst, daß es sich wohl nur noch um Wochen handle …
13. Februar. Mittwoch. Nachmittag will ich bei Frau Rietschel einen Besuch machen. Er schläft. Die Frau Professor, welche mir dieses mittheilt mit der Bemerkung, daß er immer schwächer werde, berichtet mir von einem recht betrübenden Vorfall, der im Atelier sich zugetragen hat. Beim Abformen des neuen Kopfes des Luther-Modells reißt der zu schwache Strick und die Form wie der Kopf zerbricht beim Herabfallen in viele Stücke. Dieser Unfall unter den jetzigen Umständen, wo unter Anderem auch die Ablieferung nach Lauchhammer sehr drängt, ist sehr beklagenswerth …
14. Februar. Donnerstag. Nachmittag begebe ich mich in Rietschel’s Atelier. Ich finde Geheimrath Kohlschütter daselbst. Der Luther-Kopf ist wieder aus dem Gröbsten hergestellt. Mit Rietschel geht es übel. Das Fieber wie die Schwäche nehmen in raschem Fortschritt zu. Ich sehe ihn nicht. Er liegt. Wir werden ihn nicht mehr lange haben.
15. Februar. Freitag. Nach Tisch gehe ich wieder nach Rietschel’s Atelier. Der neue Luther-Kopf fast fertig und ich würde keinen Unterschied mit dem ersten aufzufinden vermögen …
16. Februar. Samstag. Ich spreche Frau Professor Rietschel. Es geht ihrem Manne sehr übel und ich werde ihn nicht mehr sehen …
19. Februar. Dienstag. Nach drei Uhr gehe ich in das Rietschel’sche Atelier, um mit Donndorf nähere Verabredung wegen der Ausstellung des Luther-Modells zu treffen … Der Kopf ist nun in Gyps ausgegossen und mit der Statue gut verbunden. Er scheint mir sehr schön zu sein.
21. Februar. Donnerstag. Am frühen Morgen kommt die Nachricht, daß unser lieber Rietschel bei Tagesanbruch (um 6 Uhr) seinen Geist ausgehaucht hat.“

So der Hergang nach unantastbarer Ueberlieferung, und kurz wiederholt: Rietschel war mit seinem Luther-Kopf noch nicht zufrieden, er beauftragte seinen Schüler nach seinen Intentionen einen zweiten Luther-Kopf zu modelliren; der kranke Meister sah jedenfalls diesen letzteren vom Fenster aus im Garten stehen, sein großer Freund und Berather sanctionirte die Neuschöpfung nach eigenen Milderungen und der Meister ging befriedigt oder mindestens beruhigt über sein letztes Werk in den Tod. Der Bruch des Modells verliert jede Wichtigkeit, da selbst das kunstgeübte Auge eines Schnorr keinen Unterschied entdecken konnte, und dann ist Donndorf’s Luther-Kopf zerbrochen und nicht derjenige von Rietschel, welcher sich noch gegenwärtig unverletzt im Besitz des Professor Kietz in Dresden befindet.

Hermann Krone in Dresden hat nun durch eine Reihe vorzüglicher photographischer Aufnahmen beider Köpfe ermöglicht, daß sich auch die weitesten Volkskreise über beide Auffassungen ein Urtheil bilden können. Zwei der besten Ansichten findet der Leser im Holzschnitt wiedergegeben, und zwar haben wir, um die Vergleichung zu erleichtern, beide Köpfe in gleicher Büstenform dargestellt, und betrachten wir nun dieselben mit parteilosem Auge, so müssen wir, trotzdem der Meister selbst noch unzufrieden damit war, doch sofort zugestehen: Rietschel’s Kopf ist unendlich sympathischer, als derjenige von Donndorf. So und nicht anders denken wir uns unseren Luther, wie er in männlicher Geradherzigkeit und religiöser Innigkeit in ruhigeren Zeiten zum Volke redete. Mit diesem Gesichtsausdruck können wir uns ihn auch in seiner stillen Häuslichkeit an der Seite seiner geliebten Katharina vorstellen – aber der große historische Luther spricht nicht aus dem Rietschel’schen Kopf. Das ist nicht der Luther, den ein gewaltiger innerer Geist, den er selbst nicht hemmen konnte, zur That forttrieb, das ist nicht der Mann, der sich mutterseelenallein gegen Kaiser und Fürsten, gegen Papst und Priesterthum auflehnte. Dieser letztere Luther sieht dem Donndorf’schen Kopf um Vieles ähnlicher, und mag man auch von antiker Maske und sonst etwas reden, es darf uns das nicht irre führen, die Leidenschaft ist allzeit dieselbe und wird, wenn sie künstlerisch dargestellt werden soll, von der Antike nicht so sehr abweichen dürfen. Luther sagt von sich selbst:

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_755.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)