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Seite:Die Gartenlaube (1883) 724.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

In längerer Rede wies er, wie ich später erfahren, auf das gänzlich Unbegründete der Anklage hin. Ein Mann, so führte er aus, der einige Wochen eine wissenschaftliche Reise gemacht, wie aus den Notizen hervorgehe, die er bei sich trage, der ferner solche Documente, wie Paß und Diplom einer deutschen Universität, besitze, aus dessen Briefen man alle seine Angaben über seine Stellung, seinen Beruf etc. bestätigt finde, und der, was man auch gethan habe, um ihn zum Vagabonden zu stempeln, diesen Eindruck gewiß nicht mache, könne doch unmöglich hierher gekommen sein, in eine Gegend, die er nicht kenne, unter Leute, deren Sprache er nicht spreche, um einen Wirth um siebenzehn Franken zu betrügen. Vielmehr sei, da alle meine anderen Angaben sich als wahr ergeben hätten, auch wohl meine Aussage zu glauben, daß ich der Bestohlene sei. Er schilderte das Verfahren des Wirthes nicht blos als inhuman, sondern als perfid, da er, anstatt mir mit Rath in meiner durch den Verlust sehr unangenehmen Lage beizustehen, in perfider Weise mich als Betrüger der Polizei denuncirt habe.

Das war brav, Herr Advocat A…!

Der Gerichtshof zog sich zurück, die Verhandlung dauerte aber nicht lange. Bald erschienen die Herren und der Präsident verkündete den Spruch, wonach ich für nichtschuldig erklärt und mir eröffnet wurde, daß ich unmittelbar in Freiheit gesetzt werden sollte.

Ich athmete auf und vergaß sogar auf einige Zeit meine Schmerzen, so sehr wirkte dies freisprechende Urtheil auf mich und die Gewißheit, diesen Ort in wenigen Stunden schon verlassen zu können. Freiheit! Freiheit! Sie sollte mir Gesundheit und Alles wiedergeben, was mir theuer war. Als ich daher in das Gefängniß, diesmal ohne Ketten, zurückgeführt wurde, hielt ich dies blos für Formalität, bis die betreffenden schriftlichen Ordres etc. gegeben sein würden! Ich warf mich auf mein Lager, um Kräfte zu sammeln für den nachherigen längern Gang in die Stadt. Aber Stunde auf Stunde verging, und kein erlösender Engel in Gestalt eines blauen Unterofficiers erschien, um mich in die ersehnte Freiheit zu führen. Die Nacht brach herein, und für heute mußte ich wohl auf Befreiung verzichten, das sah ich ein.

Als der Morgen kam, hielt ich mich bereit, um auch nicht eine Minute länger hier bleiben zu müssen, wenn die Erlaubniß zum Fortgehen käme. Da kam denn endlich ein Unterofficier und theilte mir in französischer Sprache mit, daß ich auf Anordnung der Polizei bis auf Weiteres inhaftirt bleibe.

Ich war wie vom Schlage getroffen und brachte nur ein „unmöglich!“ heraus. Die Wächter brachen darüber in lautes Gelächter aus und entfernten sich. Es war aber auch gar zu spaßhaft, daß ein Deutscher eine solche Willkür der Polizei für unmöglich hielt. Ich mußte mich fügen und that es in stummer Resignation. Aber diese zehn Tage, die ich von dem freisprechenden Erkenntnisse an noch an diesem Orte zubringen mußte, waren härter als die vorhergehenden.

Ich verlangte Schreibmaterial, um endlich nach außen Nachricht von meinem Aufenthalte geben zu können – vergebens! Ich beanspruchte eine gesündere Zelle und bestand darauf, daß man kein Recht habe, mich mit bestraften Verbrechern einzusperren, nachdem ich freigesprochen sei – Alles vergebens! Ich war in der Gewalt der Polizei und sollte erfahren, was eine italienische Polizeibehörde vermag ungeachtet des Richterspruches, der in aller Form abgefaßt und rechtsgültig war.

Als einige Tage vergangen waren, rieth mir mein afrikanischer Chasseur, mich an den Geistlichen zu wenden, der alle Wochen mehrere Male zum Unterrichte komme. Er habe das Recht, sich der Kranken anzunehmen, und verschaffe ihnen die Bedürfnisse, die von der Verwaltung nicht gewährt würden. In meiner ungewöhnlichen Lage betrat ich diesen für mich ungewöhnlichen Weg, schickte ihm heimlich durch einen seiner Schüler einen Zettel, worin ich ihm meine Lage aus einander setzte und um seine freundliche Vermittelung bat.

Statt aller Antwort sandte er mir ein Buch in französischer Sprache „Conversion merveilleuse de Mr. Marie Ratisbonne“, eine Geschichte, in welcher unter Anführung der wahrheitsgetreuen Berichte von Augenzeugen erzählt wird, wie ein Jude, erfüllt von Haß gegen die katholische Kirche, im Jahre 1842 am 20. Januar in eine alte verlassene, der Jungfrau Maria geweihte Capelle eingetreten und dort in Zeit einer Viertelstunde durch das unmittelbare Erscheinen der heiligen Jungfrau in Person aus einem Feinde der Kirche in einen gläubigen Sohn derselben umgewandelt worden sei.

Ich schickte dem Herrn bei seinem nächsten Besuche das Buch mit bestem Danke zurück, worauf er mir sagen ließ, er habe nichts weiter für mich.

Da kam Bruder Meiniges und fragte mich, ob ich etwas lesen wolle, lesen sei erlaubt, aber weiter nichts. Ich erwiderte, daß es hier für mich wohl kaum etwas geben könne.

„O,“ erwiderte er, „der Chef hab Bücher, viel Bücher.“

Nicht lange darauf erschien der Gefängnißschreiber und redete mich mit seinem piemontesischen Französisch mit wichtiger Miene an. Er habe, so sagte er, auf sein Ansuchen vom Chef etwas Ausgezeichnetes erhalten. Der letztere lasse mir sagen, das Buch aber ja in Acht zu nehmen, da es ihm sehr werthvoll sei; es sei das Ausgezeichnetste und Feinste, was es gäbe. Zwar, und hier flog ein verschmitztes Lächeln über sein breites Gesicht, sei das Buch eigentlich unmoralisch, aber es ist etwas, das man lesen muß, denn der Zweck ist gut, ja man kann sagen, sehr gut.

Ich war nach dieser Einleitung etwas gespannt, dies sonderbare Buch kennen zu lernen. Als er es mir endlich in die Händc gab, las ich: „La dame aux Camélias par Alexandre Dumas fils“. Fast hätte ich gelacht, doch ich wollte den kleinen Mann nicht beleidigen, glaubte er doch, mir eine große Gefälligkeit zu erweisen durch Ueberreichung des Buches.

Welche werthvolle Lectüre gab es in diesem italienischen Gefängnisse! Die Verbrecher hatten ihren Rinaldo Rinaldini, der Priester seine Bekehrungsgeschichten von Juden, Protestanten und andern Heiden, der Chef aber seine „Cameliendame“ mit dem unmoralischen Inhalt, aber doch guten Zweck.

Ich schließe hiermit meine Geschichte und füge nur noch hinzu: Nachdem ich drei Wochen ohne Grund eingesperrt gewesen war, wie der gemeinste und schwerste Verbrecher behandelt, ließ man mich nicht etwa einfach frei, sondern ich wurde, auf Antrag der Polizei, vom Minister des Landes verwiesen. Ich will keinen zu schweren Stein auf die hier auf die Scene meiner Geschichte geführten Obrigkeiten werfen. Irren ist menschlich, nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Wenn aber eine Nutzanwendung für die Sicherheit von Reisenden gegen solche unberechenbare Irrthümer aus meinem Mißgeschick hervorgehen könnte, so würde dies mir die Erinnerung an dasselbe doch wenigstens zu etwas Erfreulichem machen.




Blätter und Blüthen.

Siemering’s Luther-Denkmal zu Eisleben. (Mit Abbildung S. 713.) Am 10. November wird die Hülle von dem Luther-Denkmal fallen, welches in seiner ehernen Macht den alterthümlichen Eislebener Marktplatz überragt. In der Linken die Bibel, seine Burg „voll guter Wehr und Waffen“, in der Rechten die päpstliche Bannbulle, welche dem treuesten Sohne der Kirche die Thür des Heiligthums verschließen will und welche darum ein Raub der Flammen werden muß, so schaut er vom Eislebener Marktplatz in die vielbewegte Gegenwart hinein, eine geistesgewaltige Illustration des kühnen Wortes: „Und wenn die Welt voll Teufel wär’!“

Woher Luther den Muth nahm, gegen eine mehr als tausendjährige Macht anzukämpfen, das zeigt uns Meister Siemering in den herrlichen Reliefs, welche den Sockel des Denkmals einschließen. Da finden wir zunächst Luther’s Wappen an der Vorderfront. Es ist ja allgemein bekannt, dieses Wappen, von welchem der volksthümliche Vers singt:

„Des Christen Herz auf Rosen geht,
Selbst wenn es unter’m Kreuze steht, –“

aber neu ist die packende Allegorie, zu welcher Siemering dieses Luther-Wappen umgedichtet hat. Das Wappenschild wird von einem Engel gehalten. Zu seinen Füßen liegt überwältigt zähneknirschend, noch einmal sich machtlos aufbäumend „der alt’ böse Feind“, dessen „groß Macht und viel List“ an der Wahrhaftigkeit zu Schanden geworden ist. Hier haben wir ein Bild von Luther’s Kämpfen und Ringen, welches mit ursprünglicher Gewalt auf den Beschauer wirkt.

Sein Rüstzeug hat Luther aus der Waffenkammer genommen, die er seinem Volke auf der waldumwobenen Wartburg erschlossen hat. Das Relief auf der Südseite zeigt ihn uns bei der Bibelübersetzung. Abweichend von den Darstellungen, welche den bibelforschenden Luther erhobenen Hauptes und weit hinausleuchtenden Blickes darstellen, giebt uns Siemering einen still sinnenden, innerlich vertieften Luther, welcher sich in Gottes Wort förmlich begraben fühlt, um als eine vom Geiste Gottes durchheiligte Persönlichkeit aus der Tiefe auszuerstehen. Luther’s Charakteristicum, seine demüthige Treue, tritt auf diesem Relief besonders schön in die Erscheinung.

Die Nordseite des Denkmals bringt ein Bild aus den Tagen des Kampfes. Luther und Eck – neue und alte Zeit im Geisteskampfe! Hier der wortreiche, an sophistischer Weisheit genährte Vertheidiger mittelalterlicher Ideen; dort der körnige, an Gottes Wort stark gewordene Augustiner. Diese beiden Profile – Luther und Eck – verkörpern zwei von Grund auf verschiedene Welt- und Lebensanschauungen, wie sie auch in Eck’s Decretalen und in Luther’s Bibel zum Ausdruck kommen. Beides gewaltige Mächte, und doch zeigt uns dieses Relief in seiner plastischen Ruhe, „wer hier seinen Feind niederreiten wird“.

Bedarf das letzte Bild noch einer Erklärung? „Luther im Kreise seiner Familie“ lebt ja durch alle Zeiten im Herzen des deutschen Volkes. Wie der heldenhafte Mann so kindlich in die Saiten greift, wie sein „Herr Käthe“ dem süßen Sange lauscht, wie Hans, Martin und Lenchen sich kindlich fromm an die Eltern schmiegen und wie dieses stille Familienglück für unzählige deutsche Häuser vorbildlich geworden ist – davon weiß ja jedes evangelische Herz zu singen und zu sagen. An Luther ist es doch wahr geworden, was auf die Nachricht von seinem Tode ein Freund schrieb: „Dieser Luther ist gar nicht todt, er lebt und wird leben.“

Jahre lang hat Professor R. Siemering an dem Denkmale gearbeitet, Jahre lang hat die Stadt Eisleben an den Geldern gesammelt, um die bedeutenden Kosten des Denkmals decken zu können – für alle Zeiten aber soll der protestirende Luther in seiner Geburtsstadt stehen, eine Mahnung für das deutsche Volk, seine besten und heiligsten Güter festzuhalten und vom Kampfe zum Siege durchzudringen.

– rch.



Inhalt: Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 709. – Doctor Martin Luther. Von Emil Zittel. S. 712. – Des deutschen Volkes Ehrentag. Von Ferdinand Hey’l. S. 716. Mit Illustration. S. 717. – Die Frauentage und die Frauenbewegung. S. 718. Mit Portraits. S. 721. – Unter Spitzbuben. Ergötzliche und lehrreiche Geschichte aus dem schönen Italien (Schluß). S. 722. – Blätter und Blüthen: Siemering’s Luther Denkmal zu Eisleben. S. 724. Mit Abbildung. S. 713.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_724.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)