Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Ich setzte ihm nun aus einander, was mir fehle, wo ich Schmerzen habe, wie dieselben sich äußerten und wie nach meiner Ansicht eine Entzündung, oder dergleichen vorliege. Als er keine Anstalt zur Untersuchung machte, bat ich ihn, mir wenigstens ein Tuch zu verschreiben, damit ich mir Kaltwasserumschläge machen könne.
„Sie erhalten nichts!“ rief der würdige Jünger Aesculaps, drehte sich kurz um und mit den Worten: „Man weiß nicht, ob es wahr ist,“ setzte er sich wieder an seinen Tisch.
Ich aber, um einen Thell Hoffnung auf menschliche Behandlung ärmer, spazierte mit Bruder Meiniges in meine Zelle zurück. Wollte man mich mit Gewalt umbringen? Unwillkürlich fiel mir Fritz Reuter und Onkel Dambach ein, und wie Ersterer mit dem Franzosen zusammen in der Berliner Hausvogtei krank und erschöpft drei Tage und drei Nächte im Winter auf bloßen Dielen in ungeheizter Zelle hatte zubringen müssen. Ich nahm mir vor, den Onkel Dambach’s hier und ihrer rohen Gewaltthätigkeit Gleichmuth und festen Muth entgegenzusetzen. Diese Italiener konnte ich zwar in ihrem augenscheinlichen Verlangen, einen Deutschen zu quälen, nicht hindern, wenn sie aber hofften, mich mürbe zu machen, so sollte ihnen das ungeachtet meiner Krankheit nicht gelingen, und sie sollten mich nicht schwach sehen.
So vergingen vier Tage, ohne daß ich einen Bissen genießen konnte, nur schmutziges Wasser, das ich mit Ekel trank, genoß ich des Fiebers wegen. Am fünften Tage erschien Bruder Meiniges. „Nimm Dein Mantel!“ sagte er, indem er auf meinen Ueberzieher zeigte.
Schon glaubte ich, die Stunde meiner Befreiung habe geschlagen, aber ich wurde bald enttäuscht, denn ich sollte nur die Zelle wechseln. Ich wurde in ein anderes, ebenfalls zu ebener Erde liegendes Gewölbe gebracht, das fünf Insassen zählte von dem verschiedensten Alter. Das Gewölbe hatte den Vorzug, daß die Strohsäcke nicht auf dem feuchten Steinboden lagen, sondern auf hölzernen Gestellen. Einer von den Bewohnern wurde mir vom Unterofficier als der französischen Sprache kundig vorgestellt und mir anheimgegeben, mich mit ihm zu verständigen. Alle waren außer einem leinenen Hemd nur mit leinenem Beinkleid bekleidet, die Füße mit Holzpantoffeln. Da ich in ihren Augen fein gekleidet war, mochten sie mich wohl für irgend einen Genossen halten, der sein Handwerk im großen Stile trieb, und sie traten, als ich von dem kurzen Gange erschöpft und voller Schmerzen mich auf mein Lager warf, mir mit einer Art vertraulichen Respectes entgegen und stellten sich um mein Bett herum. Der Aelteste, schon grau von Haaren, war eben der, welcher französisch sprach; er bewirkte die Vorstellung. Ich war also unter Leuten, die Lebensart hatten.
Er fing mit sich selbst an. In seinem italienischen Französisch begann er: „Ich bin afrikanischer Chasseur gewesen, habe vierzehn Jahre gedient, aber als Militär nur acht Jahre, im Gefängniß sechs Jahre.“
Ich fragte ihn, warum er jetzt hier wäre.
„Eh!“ erwiderte er verächtlich, „kleiner Diebstahl, nur eine Uhr.“
„Wie lange müßt Ihr dafür sitzen?“
„Drei Jahre,“ und erklärend setzte er hinzu: „Es ist das sechste Mal, daß ich bestraft werde, deshalb habe ich drei Jahre erhalten.“
„Was werdet Ihr thun, wenn Ihr die Strafe verbüßt habt?“
„Dasselbe, stehlen!“ erwiderte er ohne Zögern und mit entsprechender Handbewegung. „Und dieser hier,“ dabei zeigte er auf einen neben ihm stehenden jüngeren Mann, „mit diesem ist es dasselbe, er hat mehrere Male gestohlen.“
„Und die übrigen drei?“
„Alle haben sie mehrere Male gestohlen,“ war die Antwort.
Also unter mehrfach bestrafte Diebe hatte man mich eingesperrt, mich, den Bestohlenen; und ihr glücklicherer Genosse saß jetzt vielleicht mit meinem Gelde und ließ sich’s wohl sein, während ich an seiner Stelle im Gefängniß saß. Erhebendes Bewußtsein!
Der Jüngste der sauberen Gesellschaft, ein frecher Bursche von achtzehn Jahren, rühmte sich, schon als kleiner Knabe von acht Jahren den ersten Diebstahl begangen zu haben. Es war eine Diebsgesellschaft, die ihre weitere Ausbildung im Handwerk mit Ernst und Eifer betrieb, praktisch und theoretisch.
In Bezug auf die letztere, die theoretische Ausbildung, hatten sie sich mit der geeigneten Lectüre versehen. Gleich am folgenden Tage brachte mir einer derselben eine Anzahl Lieferungen eines, wie er sagte, vorzüglichen Buches. Ich warf einen Blick darauf und las mit Erstaunen: „Rinaldo Rinaldini, capo di Briganti di XVIII. secolo. I misteri degli Abruzzi, Romanze popolare per A. Sondermann. Editore Meyer in Genf.“ (Rinaldo Rinaldini, Räuberhauptmann des achtzehnten Jahrhunderts. Die Mysterien der Abruzzen; volksthümlicher Roman von A. Sondermann, Verleger Meyer in Genf.)
Also zwei Deutsche, wenigstens dem Namen nach, erwarben sich das unschätzbare Verdienst, durch Schilderung der Gräuelthaten des bekannten Räubers das Bildungsbedürfniß der eingesperrten Verbrecher zu befriedigen und ihre Laufbahn als edel und erhaben in den lockendsten Bildern ihnen vorzumalen.
„Rinaldo Rinaldini,“ so sagen sie in ihrer Ankündigung. „Wer hat nicht von ihm sprechen hören, das Leben dieses Sohnes der Wälder besingen hören, des mächtigen Beherrschers der Abruzzen? Selbst die Kinder kennen ihn dem Namen nach.“ – O, ihr Herren Sondermann und Meyer, möchtet ihr doch selbst in die Abruzzen gehen oder – zum Henker! – Mit großen Lettern war dann unter dieser Anpreisung verheißen: „Ciascun abbonate ricevera in premio gratuito:
Also jeder Abonneten erhielt gratis ein Bild des Königs Humbert von Italien! – Hatte diese Verheißung dem berühmten Räuber den Eintritt in das Gefängniß der Verbrecher ermöglicht, damit seine Geschichte fort und fort wirke zur Bildung würdiger Nachfolger? Ich weiß es nicht; ich habe nur gesehen, daß man diese Lectüre ruhig in den Händen der Leute ließ, während man mir Taschentuch, Kamm und Seife als wahrscheinlich unpassende, wenn nicht gefährliche Dinge versagte. – O Italien, wunderbares Land! Land der Contraste!
Während des ganzen Tages saßen die Leute und arbeiteten. Frauenstrümpfe mit kunstvollen Rändern, Kindermützchen u. dergl. wurden von ihnen ohne Vorlage geschickt und in unglaublich kurzer Zeit angefertigt. Gegen Abend aber wurde Rinaldo hervorgeholt. Einer der Jüngeren, der des Lesens kundig war – ein Priester kam jede Woche drei Mal, um die jüngeren Gefangenen in der Kunst des Lesens zu unterweisen und zu üben, wie man mir sagte, ohne dafür von der Regierung bezahlt zu werden – also Einer setzte sich dann auf einen Strohsack, die Anderen gruppirten sich um ihn und hörten mit sichtlichem Interesse zu. Der Vorleser unterbrach sich oft, um eine Stelle mit anderen Worten zu wiederholen oder auch eine Erklärung zu geben. Kam eine besonders interessante Stelle oder etwas, was sie nicht erwartet hatten – und interessante Stellen schien es viel zu geben – dann stießen sie den Ruf aus, der alle Empfindungen auszudrücken schien und den ich hunderte Mal täglich hörte: „O Christo! O Christo santo! O Christo e Madonna!“
Wenn dann die Dunkelheit hereinbrach, dann hörte wohl der Leser auf, aber das durch die Lectüre angeregte Thema wurde fortgesponnen; es wurden Geschichten erzählt (und der ehemalige Chasseur d’Afrique war besonders stark darin), in welchen Carabinieri und Briganti die Hauptrolle spielten. Dabei liefen sie in der Zelle auf und ab, der Chasseur gesticulirte nicht nur lebhaft, sondern stellte die geschilderten Situationen auch dar, so weit es der beschränkte Raum zuließ. Bald glitt er an der Wand hin, wie um den Verfolgern auszuweichen, bald machte er gewaltige Sprünge, immer dabei lebhaft erzählend, oder er sprang auch wohl in das hochgelegene Fenster, hier alle möglichen gymnastischen Uebungen vornehmend, während die Anderen ihm bewundernd zusahen, um es ihm später nachzuthun. Er zeigte eine Kraft des Körpers, verbunden mit einer katzenartigen Geschmeidigkeit, daß er ein guter Lehrmeister der Anderen war, diese aber gelehrige und willige Schüler.
Wenn dann nach Dunkelwerden draußen die Glocke zum Schlafengehen ertönte, dann wurde das Gespräch leise, aber nicht minder lebhaft fortgeführt, bis um zehn Uhr die visitirende Wache kam. Ein Huschen hin und her, und die Eintretenden fanden Alles im tiefsten Schlafe. Doch nicht alle Abend wurde erzählt. Sie sangen und marschirten dazu. Unter den Marschliedern war eins, das besonders beliebt zu sein schien. Das Lied ist eine Erinnerung an 1870. Es wird in ihm von verrätherischen Generalen gesprochen, die 130,000 Gefangene an die Preußen geliefert haben, und schließlich Napoleon selbst als Verräter bezeichnet, den man nicht haben will: „Noi non vogliamo più Napoleone!“
Aber ich bin diesen Leuten doch zu Dank verpflichtet, und ich will nicht unterlassen, es zu erwähnen. Während die Wächter und Aufseher ihren ganzen Hohn und Spott tagtäglich über den kranken Tedesco ausschütteten, mir jede Hülfe versagt wurde, waren diese Ausgestoßenen barmherziger. Mit Sorgfalt machten sie mir die Kaltwasserumschläge, die ich verlangte.
Als ich eines Tages einen Asthma-Anfall bekam, der mich zu ersticken drohte, und die rohen Wächter, die gerufen wurden, auch jetzt, anstatt mir Hülfe zu leisten, respective den Arzt zu rufen, ärgerlich über die Störung in ihrem dolce far niente, nur Verwünschungen und Spott hatten, mit dem sie sich schleunigst wieder entfernten, bemühten sich diese Leute um mich, frottirten mir Brust und Rücken und ließen für ihr Geld – sie waren verurtheilte Verbrecher und konnten daher Alles haben, während man mir, dem Untersuchtungsgefangenen, Alles versagte – in der Cantine der Festung Camillenthee bereiten, den sie mir einflößten. Jeden Abend schüttelten sie mir meinen Strohsack auf, um mich so weich wie möglich zu betten, und verschiedene Abende besorgten sie mir sogar eine Tasse Milch, da sie, wie sie sagten, es unmöglich fänden, daß ich bei Wasser und Brod existiren könnte. Während sie seitens der Gefangenenanstalt mit reiner Wäsche sonntäglich versorgt wurden, versagte man mir ausdrücklich die Darreichung derselben. Da stellten sich die Verbrecher hin und wuschen mir meine Hemden, denn, bemerkten sie, es sei gegen ihre Ehre, mich in solchem Zustande zu lassen.
Dank Euch, Ihr ehrlichen Spitzbuben! Wer weiß, was ohne Euch aus mir geworden wäre!
Als ich zehn Tage in den geschilderten Zustande zugebracht hatte, wurde ich eines Morgens gezwungen, mich zu erheben, um vor das Tribunal geführt zu werden. Langsam nur konnte ich folgen. Man führte mich in die Schreiberstube, und hier geschah etwas, was nach allem Vorhergegangenen ich doch nicht erwartet hatte. Zwei Gensd’armen erwarteten mich. Kaum war ich eingetreten, als der eine derselben über mich herfiel, sich meiner linken Hand bemächtigte, eine starke eiserne Kette darum schlang, die er zusammenknebelte. Dann schloß er mich an ein anderes Individuum an, und nun wurden wir Beide hinausgetrieben über den Hof in ein gegenüber stehendes großes Gebäude, dort wurde ich in ein Zimmer gesperrt und an beiden Händen mit eiserner Kette geknebelt.
Ich glaubte, im Fiebertraum zu sein. Nach längerer Zeit wurde ich wieder herausgeholt, die Kette mir abgenommen und ich dann in einen Saal geführt, den ich sogleich als den Sitzungssaal des Tribunals erkannte. Er war mit Zuhörern dicht gefüllt und hatte ganz das Aussehen eines deutschen Gerichtssaales. Fünf Richter in schwarzem Talar saßen auf einer Tribüne, rechts der Staatsanwalt, links der Vertheidiger. Ich übergehe die ausführliche Beschreibung der Verhandlung, da sie von ähnlichen Proceduren in Deutschland nicht sehr verschieden ist.
Der Staatsanwalt beantragte auf Grund der Aussage jenes Wirthes, mich wegen versuchten Betrugs zu sechs Tagen Gefängnis zu verurtheilen, wie mir durch den Dolmetscher mitgetheilt wurde. Schon wollte ich, meine Schmerzen verbeißend, mich erheben, um meine Vertheidigung selbst zu führen, als auf einen Wink des Präsidenten der Vertheidiger sich erhob.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_723.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)