Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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solche bezeichnet wurden, kennen zu lernen, wobei ich von dem herrlichen Ausblick auf das Thal mit allen seinen Seitenthälern, den darüberragenden schneebedeckten Häuptern des Montblanc, Monte Rosa etc. oft mehr entzückt war, als von dem Trümmerhaufen, um dessen willen ich den Berg erstiegen hatte. Die Zeit war rasch verstrichen und der Tag rückte heran, wo dies Umherschweifen sein Ende erreichen sollte. So gelangte ich nach B…, von wo ich am andern Tage mit der Bahn direct nach M… zu fahren gedachte. Ich kehrte, ohne den rothen Bädecker zu fragen, in einem mir als gut und nicht zu theuer empfohlenen Hôtel ein, in welchem man, wie mir versichert worden war, auch französisch sprach, was für mich insofern von Wichtigkeit war, als ich der ltalienischen Umgangssprache nicht mächtig war, da ich bis dahin nicht Gelegenheit hatte, dieselbe zu practiciren, in gebildeten Kreisen Italiens aber überall französisch gesprochen wird. In Piemont ist letzteres sogar die Sprache der officiellen Kreise, und alle Versuche der italienischen Regierung, die italienische Sprache bei Gerichtsverhandlungen etc. einzuführen, sind bis jetzt an dem Widerstande der Beamten und Gemeinden gescheitert.
B., das im Kriege von 1859 mit seiner Festung noch eine Rolle gespielt hat, bietet manches Interessante, und ich versäumte nicht, es in Augenschein zu nehmen. Auch die Festung besah ich mir, von außen natürlich, ahnungslos, welche Bedeutung dieselbe für mich erhalten sollte.
Am anderen Morgen nahm ich mein bescheidenes Frühstück ein und erklärte dabei, daß ich nach Tische abreisen würde. Bei dieser Gelegenheit machte ich die Entdeckung, daß man mein Französisch nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Nach Tische überreichte man mir die Rechnung. Sie betrug für das staubige Zimmer nach dem Hofe hinaus und die drei bescheidenen Mahlzeiten, die ich genommen, ungefähr das Doppelte von dem, was man anderwärts bezahlt, nämlich siebenzehn Franken. Mein Professorenmagen war nicht gewöhnt, in so verhältnißmäßig kurzer Zeit mich zu so enormen Ausgaben zu veranlassen, und rebellirte, sodaß ich mir das Schriftstück, zu deutsch Rechnung, genauer besah. Da fand sich denn Verschiedenes, was ich weder verlangt noch gehabt hatte. Es war nicht der freundlichste Blick, den ich dem biederen Hôtelier zuwarf, als ich nach meiner Reisetasche griff, mein darin wohl verwahrtes Portefeuille herauszuholen und zu bezahlen.
Wer beschreibt aber meinen Schrecken, als ich die Seitentasche, in der es verwahrt worden war, leer fand! Ich kramte die Tasche aus, aber kein Portefeuille war zu finden. Dagegen machte ich die angenehme Entdeckung, daß eine Naht der Tasche aufgetrennt war, an derselben Seite, an welcher inwendig das Behältniß für Papiere und Gold sich befand. Die aufgetrennte Naht war von außen durch eine Klappe verdeckt, sodaß man das Attentat erst beim Oeffnen der Tasche, behufs Herausnahme von Geld etc., bemerken konnte. Ich vergaß in meiner Bestürzung die Höhe der Rechnung und alles und griff mechanisch nach meinem Portemonnaie, um zu zahlen und fortzukommen. Aber auch dieses betrog mich heute.
Seit ich einst auf einem größeren Bahnhofe in Mitteldeutschland durch einen geschickten Taschendieb um mein Portemonnaie mit verschiedenen gelben Zwanzigern gekommen war, ohne daß ich das Geringste gemerkt hatte, habe ich die löbliche Gewohnheit, auf Reisen etc. so wenig wie möglich dem Portemonnaie anzuvertrauen, damit der Verlust im schlimmen Falle nicht zu groß sei. Jetzt fand ich darin wohl verschiedene ganze und halbe Franken, auch eine Zahl Fünf- und Zehn-Rappenstücke, aber im Ganzen machte dies nicht siebenzehn Franken aus. Ich wandte mich an den Wirth und theilte ihm mit, daß ich soeben die Entdeckung gemacht habe, ich sei meines Portefeuilles beraubt. Nachdem er mich von Kopf bis zu Fuß betrachtet, erwiderte er, er verstehe nicht französisch, wolle aber mit mir zu einem Freunde gehen, wo man mich verstände.
Ich war im Herzen froh darüber, daß ich Jemanden finden sollte, der mich verstand und mir in meiner Verlegenheit beistehen könnte. Wir traten in ein Haus ein, das ich für ein Handlungshaus hielt, und die Stube, in welcher wir uns bald befanden und in welcher verschiedene Schreiber saßen, schien mir ein Comptoir zu sein.
Mein freundlicher Hôtelwirth wandte sich an einen der Herren und redete ihn an. Auch ich begrüßte ihn in französischer Sprache; aber als ich ihm erzählen wollte, was mir geschehen sei, herrschte er mich an:
„Schweigen Sie!“
In demselben Augenblicke traten zwei uniformirte Persönlichkeiten ein, und nun ging mir ein Licht auf über den Ort, wohin mich der schlaue Wirth geführt hatte.
„Auch gut!“ dachte ich, „hier kannst Du Dich legitimiren und sogleich eine Vereinbarung mit dem Wirthe treffen.“
Ich zog daher ohne Umstände meinen guten deutschen Paß hervor, der außer Namen und Stand eine genaue Beschreibung meiner Person enthielt und in welchem alle Behörden des In- und Auslandes dienstergebenst ersucht wurden, dem Inhaber nöthigenfalls Schutz und Beistand angedeihen zu lassen. Dies in diesem kritischen Augenblick besonders wichtige Schriftstück überreichte ich dem hochmögenden italienischen Polizeicommissar.
Er besah die deutschen Hieroglyphen von oben nach unten und von rechts nach links, schüttelte mit dem Kopfe, dann schnauzte er mich an: Hier spreche man nur italienisch!
„Halt,“ dachte ich, „der Mann wird als Italiener vielleicht vor der Sprache seiner Urväter Respect empfinden!“
Damit kramte ich mein in lateinischer Sprache verfaßtes Doctordiplom aus, das ich zufällig bei mir führte, weil ich vergessen hatte, es in den großen Koffer zu packen, den ich von G. nach M. per Bahn hatte gehen lassen. Er besah sich das Opus, auf das ich einst so stolz war, als ich es zum ersten Mal in den Händen hielt, mit verächtlicher Miene, warf es auf seinen Tisch, fuhr auf mich los, drohte mir mit der Faust und überhäufte mich mit einer Fluth von Redensarten, aus denen die freundlichen Anreden „Vagabond“ und „Brigand“ mir in das Gesicht sprangen.
Es ist begreiflich, daß ich durch solche Behandlung erregt wurde, und ich schrie ihm noch lauter entgegen, ich sei ein Deutscher, habe meine vollgültigen Papiere bei mir und könne mich über meine Person nach jeder Richtung hin ausweisen.
„Un Tedesco! (ein Deutscher) und spricht französisch!“ lief es von Mund zu Mund.
Das mußte wohl neben meinen unleserlichen (wenigstens für den Commissar) Papieren ein neues schwerwiegendes Moment des Verdachtes sein, denn nun erklärte der Commissar, mich binden lassen zu wollen als Brigand.
Dabei liefen die Schreiber in der Stube auf und ab, die Polizeidiener um mich herum, und untersuchten prüfend meinen Anzug. Alle aber schrieen durch einander, daß es ein Heidenspectakel war, und die ganze südländische Erregbarkeit drückte sich in dem lebendigen Geberdenspiel und den Gestikulationen aus.
Ich wollte der elenden Komödie ein Ende machen und wandte mich, so ruhig wie möglich, an den Wirth, indem ich ihm erklärte, ich würde für die wenigen Franken, die ich, durch den an mir begangenen Diebstahl genötigt, augenblicklich schuldig bleiben müsse, ihm so viel von meinen Werthsachen da lassen, als er glaube, daß zu seiner Sicherheit nothwendig sei, nötigenfalls auch meinen Paß auf der Polizei so lange deponiren, bis ich ihm den Betrag gezahlt habe. Er schien zu überlegen, dann sprach er mit dem Commissar, ohne daß ich verstehen konnte, was sie verhandelten.
Aus einen Wink des letzteren fielen plötzlich zwei der Schergen über mich her, rissen mir Ueberzieher, Rock und Weste vom Leibe, um, wie ich aus den Worten des Machthabenden heraushörte, zu untersuchen, ob ich Revolver, Dolch oder Gift bei mir habe. Das Futter des Rockes wurde abgerissen und hinter demselben alles genau besichtigt. Sobald ich eine Bewegung machte, um zu verhindern, daß die Kleidungsstücke respective die in den Taschen befindlichen Sachen beschädigt würden, drohte man, mich gegen die Mauern zu drücken, und warf mir andere Redensarten in’s Gesicht, die mich zu der Ueberzeugung brachten, daß ich hier auf Alles, auch das Schlimmste, gefaßt sein müsse.
Meine Protestation, die ich in der energischsten Weise gegen solche Vergewaltigung losließ, und meine Berufung auf meine Eigenschaft als deutscher Staatsbürger, wurde mit Hohn und Spott aufgenommen. Als man ein größeres Taschenmesser fand, erregte dies die größte Aufmerksamkeit: es wanderte von Hand zu Hand, bis Alle es genau besehen und ihre Bemerkungen darüber gemacht hatten. Ein Scherge hatte meine Reisetasche ausgekramt und fand ein kleines Tintenfaß in Form eines Schweizerhäuschens, Federn und einen Federhalter. Das schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Ein Brigand und Schreibzeug! Was für ein gefährliches Subject mußte ich sein!
Der liebenswürdige Wirth hatte sich inzwischen entfernt. Der Commissar saß überlegend da, während ein anderer Beamter mir sagte, ich möge meine Sachen wieder einpacken. Ich that dies so rasch wie möglich, um von diesem unheimlichen Orte fortzukommen. Da stürzte plötzlich ein anderer Beamter herein, flüsterte einige Worte, im Nu ertönte eine Klingel, drei Schergen erschienen im Locale und erhielten den Befehl, mir alles wieder abzunehmen und mich in’s Gefängniß zu führen. Die widerliche Scene des Herunterreißens wiederholte sich. Ich protestierte von Neuem und berief mich auf die deutsche Behörde, die mir den Paß ausgestellt habe und der ich bekannt sei.
„Ja,“ entgegnete der Commisar höhnisch, „dahin wird man Euch führen, aber so!“
Dabei hielt er die Arme über einander, was so viel heißen sollte als :
„Gebunden!“
Die Sache war außer dem Spaß. Was wollte man mit mir? Ich hatte keine Ahnung davon. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich von Gensd’armen durch die Straßen geführt, wo die Leute mich neugierig anstarrten: das Thor der Festung, die ich am Tage vorher von außen betrachtet hatte, öffnete sich, und über verschiedene Höfe hinweg wurde ich in das Innere eingeführt, um dies ganz gegen meinen Willen kennen zu lernen. Zunächst wurde ich in der Schreiberstube registrirt, dann in einem andern Gemache bis auf’s Hemd entkleidet und jedes Kleidungsstück sorgfältig untersucht. Dann nahmen mich zwei Unterofficiere in ihre freundliche Mitte, schwere eiserne Thüren öffneten sich, und ich befand mich bald darauf in einem feuchten, dumpfen Gewölbe zu ebner Erde, aus dessen dunkelem Hintergrunde mich zwei Galgengesichter neugierig anstierten.
Die Wärter entfernten sich; ich stand nahe der Thür, das Eisengitter betrachtend. Dann kniff ich mich in die Arme, um mich zu vergewissern, ob ich schlafe oder wache. Es schien wirklich das letztere der Fall zu sein. In einer Ecke lag auf dem feuchten Steinpflaster ein Strohsack, der mir als Lagerstätte angewiesen worden war – sehr einladend! Beim Hinausgehen hatte der eine Unterofficier, französisch radebrechend, mir das Local als schön, frisch und kühl angepriesen – sehr angenehm bei der tropischen Hitze da draußen! Der eine jüngere Strauchdieb kam auf mich zu, redete mich in seinem italienischen Patois vertraulich an, und als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, ging er hin, nahm einen irdenen Topf, füllte ihn aus einem schmutzigen Fasse mit Wasser und hielt ihn mir entgegen mit der Aufforderung zu trinken – sehr liebenswürdig!
Doch da rasselten die Schlüssel draußen wieder; gewiß hatte man den Irrthum erkannt, meine Papiere und Briefe genau angesehen und kam, mich wieder in Freiheit zu setzen. Die äußere Thür öffnete sich und vor die zweite Gitterthür trat eine lange Gestalt in himmelblauer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_707.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)