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Seite:Die Gartenlaube (1883) 695.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Ja, es ist sehr lustig.“ Und dann rückte sie vor dem kleinen Spiegel das Hütchen zurecht, strich die Handschuhe glatt und verabschiedete sich, indem sie Vater und Sohn zugleich die Hände reichte.

„Willst Du schon fort?“ fragte der Onkel verwundert. „Du bist kaum eingetreten.“

„Ich darf die Pferde nicht so lange stehen lassen,“ entschuldigte sie. „Ich wollte auch nur fragen kommen, ob Walter schon angekommen sei, und da ich ihn nun gesehen habe, braucht’s darauf nicht einmal einer Antwort. Aber ich finde mich schon wieder ein – Abends einmal, wenn wir zum Plaudern Zeit haben. Walter hat gewiß viel zu erzählen.“

Er begleitete sie zum Wagen und hob sie hinein. Sie nickte ihm freundlich zu, aber ihr Lächeln hatte etwas Wehmüthiges. Und als sie nun allein mit sich war, überkam sie eine Bangigkeit, die sich gar nicht meistern lassen wollte. Was war ihr denn geschehen? Sie war auf ihrem Lebenswege an einer offenen Thür vorübergegangen, und jetzt erst, da sie sich weit, weit entfernt hatte und zufällig zurückblickte, sah sie, daß sie zum Eintritt eingeladen hatte. Sie empfand keinen Schmerz darüber; aber es beunruhigte gleichsam ihr Gewissen. Wie viel Kummer hatte sie Walter bereitet! Und wie schwer mußte sein Kampf gewesen sein, wenn es ihm gelang, sich so völlig zu befreien, daß er nun in ihrer Gegenwart über sein früheres Leid scherzen konnte!

Walter war sicher der strenge Idealist geblieben, der an sich die höchsten Anforderungen stellte. Und nicht nur an sich. Wie er das Gefühl, das keine Erwiderung gefunden, von sich ausgestoßen hatte, so setzte er auch bei ihr die Festigkeit voraus, ihr Geschick hinzunehmen, wie sie sich’s bereitet hatte. Eine Rückkehr gab’s nicht. Wohin auch? Sie waren beide andere Menschen geworden in diesen Jahren.

Er hatte sie geliebt … Es war doch wundersam, das jetzt zu erfahren und nachträglich ein Verständniß für das Unverstandene zu suchen und zu finden. Vorbei – vorbei!

Zu viel hatte an diesem Nachmittage auf ihr Gemüth eingestürmt. Sie ging sogleich auf ihr Zimmer, schloß sich ab und ließ sich auch am Abend nicht mehr in der Familie blicken. Robert’s großes Bild verhängte sie, die Photographien stellte sie um. Sie konnte heute nicht mit reinen Empfindungen und auch nicht gleichgültig genug darauf blicken. Und es war ihr auch, als müßte es ihn kränken, sie zu sehen. Sie konnte nichts dafür. Es war ohne ihr Zuthun geschehen, daß der Eine und der Andere sich ihrer bemächtigt hatte. Aber bei Robert konnte sie nun doch nicht sein.

Am folgenden Tage ließ sie sich unwohl melden. So fiel die Fahrt nach dem Kirchhof aus. Aber auch am nächsten suchte sie Ausflüchte.

Die Frau Consul entschloß sich, einmal wieder selbst auf den Kirchhof zu fahren. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie, daß sie dort Herrn von Brendeln getroffen habe. Helene hörte auffallend zerstreut zu. „Es scheint mir doch aber recht unpassend,“ sagte sie, „daß er da …“ Sie wurde roth und stockte.

„Wieso?“ fragte die Mama. Dann kam ihr ein Gedanke, der frappirend wirkte. „Er ist wohl auch sonst schon dort gewesen?“

„Ja – in letzter Zeit,“ antwortete Helene.

„So – so! Wahrscheinlich erwartete er auch heute, Dich da zu finden? Ich erinnere mich jetzt, daß er mich so sonderbar anredete. Er hatte mich offenbar von weitem nicht gleich erkannt, da ich gebückt stand und der Lebensbaum ihm mein Gesicht verdeckte. Er wußte es hinterher zu verreden. Ja – was will er denn von Dir?“

„Das weiß ich nicht.“

„Sehr sonderbar. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb Du in den letzten Tagen … Du hast ganz Recht, mein liebes Kind. Sein Benehmen ist mindestens unzart. Mein Himmel! der Tag ist ja lang, und er kann auch zu anderer Stunde seine Nachforschungen nach dem versunkenen Geheimrath anstellen, oder was er sonst gewesen ist.“

Die Frau Consul wollte sich’s überlegen, was dagegen zu thun sei. Die Sache wurde mit den Töchtern besprochen. Vera versprach durch ihren Bräutigam ganz unter der Hand Herrn von Brendeln wissen zu lassen, daß man mit ihm unzufrieden sei. Durch Selma erfuhr Osterfeld regelmäßig, was sich in der Familie ereignete. Er nahm den Vorfall sehr ernst. „Dieser Herr von Brendeln,“ sagte er, „ist mir längst verdächtig. Habe ich’s denn allein bemerkt, daß er Helenen auffällig den Hof macht? Er ist zu klug, um irgend etwas ohne Absicht zu thun. Wenn er sich ernstlich um Helene bemühen sollte …“

„Sie ist jung und hübsch,“ äußerte Selma wie zur Bestätigung.

„Pah!“ sagte er, „und reich.“

„Reich?“

„Vergeßt doch nicht Robert’s Testament. Ich weiß nur noch nicht bestimmt, ob er davon Kenntniß hat. Aber es ist mir sehr wahrscheinlich – es ist anders kaum denkbar. Herr von Brendeln strebt vorwärts und braucht dazu die solide Unterlage eines möglichst unabhängigen Vermögens. In ein armes Mädchen verliebt er sich nicht.“

„Schade um seine ganz nutzlosen Bemühungen.“

„Hm … Er kann sehr liebenswürdig sein.“

Selma lächelte ungläubig. „Aber wie kannst Du nur denken, daß Helene einer solchen Verirrung fähig wäre! Sie hat geliebt! Vermagst Du Dir vorzustellen, daß man mehr als einmal lieben kann? Das würde mich sehr unglücklich machen.“

Damit war jede Fortsetzung des Gesprächs abgeschnitten. Osterfeld hatte nur noch alle Mühe aufzuwenden, seine Frau durch Zärtlichkeiten zu überzeugen, daß er ganz ihrer Meinung sei. Sie kosteten ihm allemal einen gewissen Zwang. Zum Glück kam er nur sich selbst als Liebhaber komisch vor; Selma war immer leicht gerührt, wenn er weich wurde.

Uebrigens erreichte er durchaus seinen Zweck. Selma sprach natürlich mit der Mama über die wichtige Angelegenheit und beleuchtete sie hier mit dem Lichte, das er ihr angesteckt hatte. Nun freilich gab sich die Frau Consul den Anschein, gar nicht begreifen zu können, wie ein solcher Verdacht sich durch die Thatsachen rechtfertige. „Osterfeld rechnet da zu kaufmännisch,“ sagte sie, „und übersieht, daß es für das Gefühl unmögliche Combinationen giebt.“ Trotz dieses Absprechens beschloß sie doch, im Stillen schärfer zu beobachten. Helene wurde mit zärtlichster Sanftmuth wie eine Leidende behandelt; sie sollte nicht einmal ahnen, daß man etwas anderes als völlige Resignation von ihr erwarten könne.

Herr von Brendeln setzte übrigens seine Besuche im Hause fort und änderte sein Benehmen in keiner Weise. Vielleicht noch auffälliger, als vorher, hielt er sich zu Helene; so oft sich irgend die Gelegenheit dazu bot, war er bemüht, sie in ein vertrauliches Gespräch zu ziehen. Er erschreckte sie oft genug durch seine Offenherzigkeit in der Beurtheilung der Menschen, unter deren täglichem Einfluß sie stand.

Helene entnahm für sich aus seinen anscheinend ganz allgemeinen Betrachtungen, was auf ihre besondere Lage Bezug haben konnte, und fühlte sich immer unbefriedigter. Es ängstigte sie manchmal, daß der Assessor so viel Macht über sie gewann; aber dann erschien er ihr wieder als der Befreier aus den drückendsten Banden. Es war ihr ganz sicher, daß sie nichts für ihn empfand, was herzliche Zuneigung hätte heißen dürfen, aber sie fühlte sich ihm doch zu Dank verpflichtet. Sie täuschte sich vielleicht über den eigentlichen Grund jener Sicherheit, aber darin, daß sie vorhanden war, täuschte sie sich gewiß nicht.

Nun hielt auch Walter Grün Wort: er stattete im Hause der Frau Consul seine pflichtschuldige Visite ab. Man empfing ihn dort allseitig mit einer gewissen Voreingenommenheit. Eine so achtbare Persönlichkeit der Uhrmacher war, man wußte eben in diesem Kreise nichts mit ihm anzufangen, und sein Sohn, mochte er auch studirt haben, war doch wohl zu sehr unter dem Einflusse kleinbürgerlicher Anschauungen und Gewohnheiten erzogen, um hier heimisch werden zu können. Nun machte sein Erscheinen offenbar den günstigsten Eindruck auf die weiblichen Mitglieder der Familie. Der Herr Doctor bewegte sich mit der vollen Freiheit eines geschulten Cavaliers, und nicht einmal das den jungen Gelehrten sonst wohl eigene steife Wesen, das sich namentlich in der Schule so leicht angewöhnt, wurde fühlbar. Er führte das Gespräch mit größter Leichtigkeit in jenem spielenden Tone, der auf die wenigen Minuten des Zusammenseins berechnet ist. Dabei war doch kein Wort ganz unbedeutend, der Gegenstand, den er berührte, sofort interessant. Bald wendete er sich an die Frau Consul, bald an eine der Töchter und warf ihnen den Ball zu. Ein Fremder hätte überzeugt sein müssen, daß er seit Jahren in dem Hause aus- und eingehe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_695.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2023)