Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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seinem ganzen Wesen, wie er an einer anderen Stelle gesteht, nahe verwandt.
Auch Goethe leitet seine Dichtung mit einem Vorspiel ein. Er verlegt es aber nicht, wie seine Vorgänger, in die Hölle, sondern in den Himmel. Der Herr fragt nach Faust. Mephisto schilt ihn einen Thoren, dessen Trank und Speise nicht irdisch sei, den die Gährung in die Ferne treibe. Er bittet sich die Erlaubniß aus, ihn seine Straße sacht zu führen, und wettet, daß der Himmel ihn dann verliere. Der Herr geht auf den Vorschlag ein und überläßt ihm Faust in der sicheren Voraussicht, daß nach allen Versuchen, ihn von seinem Urquell abzuziehen, der Vertreter des Bösen ihm bekennen werde, daß ein guter Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten Wegs wohl bewußt sei. Beim Eintritt in das Drama finden wir Faust, wie bei Marlowe und im Puppenspiel, im Studirzimmer. Er sieht die Nichtigkeit aller exacten Wissenschaften ein, ist mit sich zerfallen, unzufrieden, vergrämt, dabei arm und elend. Darum hat er sich der Magie ergeben. Der Staub der Gelehrsamkeit ekelt ihn an; er sehnt sich nach der lebendigen Natur. Er schlägt das Zeichen des Erdgeistes aus, glüht über den Eindruck wie von neuem Wein, aber der Geist erinnert ihn höhnend an seine Erbärmlichkeit, ihn, das Ebenbild Gottes, der sich der ewigen Wahrheit bereits so nahe gedünkt. Den Gedanken kann er nicht ertragen; er stürzt ihn in Verzweiflung; gleich dem Faust Chamisso’s will er sich vergiften, um im Jenseits die Wahrheit zu entdecken. Der Klang der Osterglocken hält ihn mit kindlicher Erinnerung zurück. Die Erde hat ihn wieder.
Auf dem Spaziergange vor den Thoren der Stadt beneidet Faust die Menschen um ihre einfache Lebensfreude. Sie nehmen das Leben, wie es ist, die Dinge, wie sie sind, und grübeln nicht nach Ursache und Wirkung, nach dem Räthsel der Welt. Aber er kann die Natur nicht ruhig genießen, ihm sind ihre Freuden verschlossen; der rastlose Drang seines Innern, die nie ruhende Reflexion verkümmern ihm den Genuß. Er vertieft sich dieser folgend bei der Heimkehr in das Studium der Bibel, sucht das Johannis-Evangelium zu erklären und fühlt nur neue Zweifel; er erkennt von Neuem die Schalheit alles gelehrten Wissens. Er hat glückliche, zufriedene Menschen gesehen und will sich gleich ihnen dem Lebensgenusse hingeben, will Leid und Freud’ der Erde theilen, wenn er sich auch keine Hoffnung macht, damit Befriedigung zu gewinnen.
Der Sinnengenuß soll für ihn aber nicht Selbstzweck sein, er soll nur seinem Drange nach Erkenntniß dienen. Seine höhere Natur ist nicht befriedigt durch ein ruhiges behagliches Genießen im Sinne des gemeinen Mannes. Schmerzlich soll der Genuß sein. Er will ganz aufgehen in der Menschheit, sein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern.
Mephisto ist mit dieser Umstimmung Faust’s ganz zufrieden; der Gewinn der Wette däucht ihm jetzt gewiß.
So wenig, calculirt er, wie ihn die Wissenschaft befriedigte, so wenig wird Faust das Leben befriedigen. Er wird es schal und unbedeutend finden und in seiner Unersättlichkeit nie die Ruhe gewinnen, welche jeder wahre Genuß verlangt. So wird er verzweifelnd sich immer wieder der Magie und dem Teufel ergeben.
Mephisto führt nun Faust in’s Leben hinein, zuerst unter die trunkenen Gesellen in Auerbach’s Keller, deren flache Unbedeutendheit ihn anwidert, so daß er seinen Führer zum Aufbruche drängt. Diese Partie und der Gedanke der Verjüngung Faust’s sind dem Volksbuche entnommen. Charakteristisch ist hier, daß den dabei vorkommenden Hocuspocus Faust nicht selber vornimmt, sondern daß er ihn von Mephisto vornehmen läßt. Die Figur hat ein höheres Relief erhalten, der alte Hexenmeister ist überwunden.
Nun kommt die Liebestragödie mit Gretchen, in ihrem Verlaufe ganz Goethe’s eigene Erfindung. Faust empfindet hohes und seliges Glück, so sehr auch Mephisto dieser Empfindung spottet. Aber die alte Unersättlichkeit bringt ihn um den reinen Genuß. Er sieht selbst, wie er dem Abgrunde zurast, und erhebt wider sich herbe Anklage. Er führt die Geliebte in Schande und Verbrechen. Vergebens will er sie äußerlich retten und auf seine Pfade führen. Sie folgt ihm nicht; sie wendet sich an des Himmels Gnade, und dieser kündet ihr Erlösung, weil sie sich selbst überwand und der Lockung des Bösen widerstand. Faust aber stürmt ruhelos weiter; seine Erlösung ist noch nicht gekommen.
Im zweiten Theile finden wir Faust im Grünen entschlummert, die Geister der Natur umschweben ihn. Dann führt uns der Dichter an den kaiserlichen Hof. Dort ist allerlei Noth. Mephisto schafft Abhülfe durch Creirung des Papiergeldes, Faust aber läßt wie im Puppenspiele die Gestalten der Antike auftreten, nachdem er den Schlüssel dazu bei den Müttern geholt. Da ist er auf einmal wieder der alte Schwarzkünstler. Er verliebt sich in die aufgezauberte Helena, strebt nach ihr, will sie erfassen: sie verschwindet.
Dann treffen wir im dritten Acte Faust wieder in seiner alten Studirstube. Wagner macht den Homunculus, der sich gleich wie ein zweiter Faust geberdet und die Welt durchschweifen muß. Er zieht mit Faust und Mephisto nach der classischen Walpurgisnacht. Faust sucht überall die Helena. Wir finden sie in ihrer Häuslichkeit. Sie soll ihres Treubruchs halber bestraft werden. Da wandelt sich die Scene; Helena ist auf eine mittelalterliche Burg entrückt, Faust ist Burgherr; Alles kommt ihm huldigend entgegen. Aus dem Bunde mit Helena entsproßt Euphorion. Auch dieser schwingt wie Faust-Icarus sich hinauf zu den Höhen des Ruhmes und findet dort den selbst bereiteten Tod. Helena sagt Faust Lebewohl und vergeht im Hauche.
Von eigentlichen Thaten, die Faust zur Förderung seiner Entwicklung verrichtete, ist bis dahin nichts zu spüren, ebenso wenig, bis auf das Verhältniß zur Helena, von einer „Stillung“ glühender Leidenschaften in den Tiefen der Sinnlichkeit, wie das Programm des ersten Actes lautete.
Endlich im Beginn des vierten Actes tritt eine heilsame Umkehr im Charakter Faust’s ein, indem er an die Stelle des bloßen todten Lebensgenusses das lebendige Schaffen und Wirken setzt:
„Dieser Erdenkreis
Gewährt noch Raum zu großen Thaten,
Erstaunungswürdiges soll gerathen.
Ich fühle Kraft zu kühnem Fleiß;
Herrschaft gewinn ich, Eigenthum,
Die That ist Alles, nichts ist Ruhm.“
Faust beschränkt sich indeß dabei auf die Absicht, das herrische Meer vom Ufer auszuschließen, den feuchten Breiten Grenzen zu gewinnen. Faust erhält zur Belohnung für eine durch Mephisto’s Hülfe dem Kaiser gewonnene Schlacht den Meeresstrand zu eigen. Er führt, um denselben dem Meere abzugewinnen, Dämme auf, läßt einen Canal graben, richtet einen Hafen ein, in welchen Schiffe ein- und auslaufen. Aber noch einmal überkommt ihn der alte Faustische Drang. Die errungenen Erfolge beglücken ihn nicht; es stört ihn die Nachbarschaft der friedlichen Idylle von Philemon und Baucis. Er hat das Leben durchstürmt; der Erdkreis ist ihm bekannt, aber die Aussicht nach drüben ist ihm versagt. - Endlich geht ihm die Erkenntniß auf: Ein Thor, ruft er sich zu, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet.
„Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen?
Was er erkennt, läßt sich ergreifen,
Er wandle so den Erdentag entlang.“
Mit dieser bereits lebendig bethätigten Erkenntniß gewinnt er sich den Frieden. Die Sorge flieht verscheucht von seinem Lager und beraubt ihn aus Rache des Augenlichts. Aber diese Blindheit hindert ihn nicht, weiter für die Menschheit zu sorgen. Ihr allein gilt jetzt sein Streben. Die Spur von seinen Erdentagen wird in Aeonen nicht untergehen. Im Gefühle dieses errungenen Friedens überrascht ihn der Tod. Mephisto macht nun zwar auf Grund des alten Pacts auf seine Seele Anspruch, aber die Engel entführen sein Unsterbliches:
„Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen.
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.“
Dieser zweite Theil des Goethe’schen Faust erfüllt allerdings in der Ausführung vom realen Standpunkte aus das nicht, was der erste Theil versprochen hat. Mephisto hat dort Faust gelobt, ihn durch die große und kleine Welt zu führen, er sollte das Leben so satt bekommen wie die Wissenschaft, und Ekel empfinden. Die Welt des zweiten Theiles ist aber zum großen Theil eine phantastische und symbolische.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_686.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)