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Seite:Die Gartenlaube (1883) 680.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

berührte, immer gleich einen Ton gab, der ihr wohlgefällig klang, konnte sie sich ihm doch nicht entziehen. Im Gegentheil empfand sie ein ängstliches Behagen, wenn er sie über die Brillengläser hinweg in’s Auge faßte und nun auf sie zuging, um sie in’s Gespräch zu verwickeln. Er beschäftigte sich doch mit ihr, er hielt sie nicht für abgestorben, und sie nahm sich stets zusammen, vor ihm ihre frischesten Lebensgeister spielen zu lassen.

Es war ihr eine stille Genugthuung, sich irgendwie oppositionell verhalten zu können. Diese Seitensprünge waren freilich sehr harmloser Natur. Sie malte Blumen, und wählte nun mit Vorliebe immer die heitersten Farbenzusammenstellungen. Das Roth und Gelb schien ihrem Auge besonders angenehm zu sein. Vera sagte einmal: „Aber der Strauß brennt ja!“ Sie spielte Clavier, aber nicht mehr seriöse Stücke und schwermüthige Melodien, sondern Compositionen von hellster Klangfarbe und raschem Tempo, womöglich Tanzrhythmen, wenn auch nicht Tänze. Und eines Abends, als viel junges Volk versammelt war und die Unterhaltung lahm wurde, setzte sie sich an den Flügel und lockte wirklich zum Tanz, der nun rasch in Gang kam, da Herr von Gräwenstein seine Braut umfaßte und mit ihr durch den Saal wirbelte. Die Frau Consul schaute etwas verwundert drein, that aber doch nicht Einhalt. Nur als Helene auf den Walzer gleich eine Polka folgen ließ, trat sie an’s Clavier und sagte: „Willst Du nicht lieber einen Andern spielen lassen, Lenchen? Du muthest Dir viel zu.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich bin gern nützlich, und es erfreut mich selbst.“

Herr von Brendeln tanzte nicht. Eine Weile stand er in einer Ecke des Saals, mit gekreuzten Armen, und blickte zu der schönen Spielerin hinüber. Sie bemerkte ihn wohl und griff jedesmal eine falsche Taste, wenn sie über das Blatt hin sich überzeugen wollte, ob er seinen Platz noch nicht verändert habe. Dann wurde er dreister, trat an’s Instrument, lehnte sich an dasselbe und schaute ihr zu. „Bravo, bravo!“ zischelte er.

Sie wurde gluthroth.

„Warum tanzen Sie nicht?“ fragte sie.

„Weil Sie spielen,“ antwortete er.

„Hören Sie das ungern?“

„Im Gegentheil – es elektrisirt mich.“

„Das merke ich eben nicht.“

„Weil ich nicht hüpfe wie die Püppchen auf der Scheibe unter der Glasglocke? Auf mich wirkt gerade diese Musik anders. Ich komme von dem Gedanken nicht los, daß gerade Sie es sind, die zum Tanz aufspielt. Das bannt mich an die Stelle.“

„So finden Sie’s doch ungehörig –“

„Sie wollen mich nicht verstehen, mein Fräulein. Diese Tanzmusik reizt mich nicht zum Tanz, weil sie mir viel mehr ist als das: ein erfreuliches Zeugniß der Heiterkeit Ihres Gemüths, das mir zu viel Werth hat, als daß ich es in so banaler Weise für mich ausnutzen möchte. Und ich denke mir auch, ein ruhender Punkt muß Ihrer Empfindung genehm sein.“

„Er verstreut mich nur. Tanzen Sie doch!“

„Mit Ihnen, Fräulein, wenn Sie einen Andern spielen lassen wollen.“

„O … ich tanze nicht.“

„Heute oder morgen –“

„Nie mehr.“

„Daran glaube ich nicht. Ich bin so dreist, mich zu verschwören, selbst nicht wieder zu tanzen, bis ich von Ihnen eine Zusage erhalte.“

In diesem Augenblick stockte der Tanz und die jungen Herren und Damen brachen in ein helles Lachen aus. „Aber wie spielst Du?“ rief Vera. „Es ist ja keine Spur von Tact mehr in Deiner Polka. Jeder versucht’s auf seine Weise damit zurechtzukommen, und dabei laufen wir einander über.“

„Daran haben Sie Schuld, Herr von Brendeln,“ sagte Helene ein wenig geärgert. „Ich kann nicht zugleich auf das Spiel und auf die Unterhaltung aufmerksam sein. Es wäre wirklich gut, Sie tanzten auch.“ Sie begann wieder den Walzer und sah fest auf’s Notenblatt. Der Assessor zog sich zurück und nahm wieder in der Ecke gegenüber Stellung. Auch jetzt aber fehlte viel, daß die Musik recht tactmäßig klang. Helene setzte sie auch nur noch eine Weile fort, dann stand sie auf und zog sich bald aus der Gesellschaft ganz zurück.




5.

An einem der folgenden Tage, als Helene sich, wie nun fast immer, allein auf dem Kirchhofe befand und auf dem Bänkchen an Robert’s Grabe in einem mitgenommenen Buche las, bemerkte sie, daß sich Jemand dem Gitter näherte. Sie glaubte anfangs, der Todtengräber mache sich an den Gräbern etwas zu schaffen, da aber die Person stehen blieb, blickte sie doch auf und sah nun zu ihrer Ueberraschung Herrn von Brendeln vor sich. Die Schreckwirkung war unverkennbar. Sie mußte sich wohl so deutlich auf ihrem Gesichte aussprechen, daß er, während er lächelnd den Hut zog, wie zur Entschuldigung seiner Anwesenheit sagte: „Ich hatte keine Ahnung, Sie zu treffen, bestes Fräulein. Es ist sonst nicht meine Gewohnheit auf Kirchhöfen spazieren zu gehen, und ich kam auch heute nur aus einer Art von geschäftlicher Veranlassung her. Ein Freund schrieb mir kürzlich, daß einer seiner Vorfahren hier beerdigt sein solle, für den er sich aus besonderen Gründen interessirte, und bat mich, gelegentlich einmal nachzuforschen, ob sich die Stelle noch ermitteln lasse. So wanderte ich nun durch die Reihe der Gräber und traf auf dieses Gitter, die junge Dame fesselte meinen Schritt, und ich wagte nicht mich bemerkbar zu machen, da ich sie in ein Buch vertieft fand. Nun bin ich ertappt.“

Helene war aufgestanden. Sie sah, während er sprach, seitwärts nach dem Monument und schien die Aufschrift zu lesen. Kein Besuch an dieser Stelle konnte ihr unlieber sein als dieser. Sie fühlte das, wenn sie sich auch nicht nach dem Grunde fragen mochte. Der erste wildaufschießende Gedanke war gewesen: das ist unverschämt! Sie war überzeugt, er habe sie hier aufgesucht. Sie erwartete, wenn sie schwieg, werde er sich sogleich wieder entfernen, da das nicht geschah, fragte sie sehr kühl: „Und haben Sie nun gefunden, was Sie suchten?“

„Wenn Sie das alte Grab meinen, nein,“ antwortete er, mit den beiden Händen die Eisenstäbe festhaltend, die er gefaßt hatte. „Weiß Gott, wo der alte Herr zur letzten Ruhe eingegangen ist. Es sind da zu viele Steine und Kreuze mit verwischten Aufschriften. Man würde Tage brauchen, um mit Zuversicht aussprechen zu können, der Name stehe darauf oder nicht. Ich weiß nicht, ob meine Geduld langmüthig genug sein wird.“

„Sollte das Kirchenbuch nicht die beste Auskunft geben können?“ fragte sie wieder nach einer Pause.

„Wohl möglich,“ sagte er leichthin, und fuhr dann fort: „Uebrigens ist eine solche Wanderung über eine Gräberstätte doch recht lehrreich. Man erfährt dabei unter anderen sehr nachdenklichen Dingen, wie rasch der Mensch vergessen wird, wenn er die Augen geschlossen hat, und begreift, daß Bescheidenheit, wenn nicht eine Tugend, doch eine beachtenswerthe Klugheitsregel ist; die allermeisten dieser in die Erde eingesunkenen, mit Gras bewachsenen Steinplatten und vom Regen entfärbten Kreuze sind verhältnißmäßig sehr jung. Auf ein halbes Jahrhundert haben es die wenigsten gebracht. Wahrlich, das Leben ist kurz, aber noch viel kürzer ist das Gelebthaben. Man thäte klug, sich’s zu verbitten, so undauerhaft conservirt zu werden.“

„Sie machen da den Menschen den schweren Vorwurf der Lieblosigkeit gegen ihre Todten,“ bemerkte Helene, selbst im Ton des Vorwurfs.

„Er ist durchaus nicht beabsichtigt,“ entgegnete der Assessor, „durchaus nicht. Das Lebende hat Recht! Es ist nur natürlich, daß die Gräber verfallen. Was thut denn am Ende auch der Durchschnittsmensch, das auf dauernde Erinnerung Anspruch hätte? Man sollte sich hüten, ihn nach seinem Hingange künstlich auszuzeichnen. Wer ihm ein liebendes Andenken bewahrt, braucht keine Gedächtnißtafel, und für jeden Anderen ist sie doch leer, was auch darauf geschrieben stehen mag.“

Dem hätte Helene zustimmen können. Aber daß er ihr’s gerade an diesem Orte sagte, machte sie scheu. Sie fand das unzart und wollte es ihn merken lassen. Deshalb entgegnete sie nichts, sondern nahm das Buch auf und öffnete die Gitterthür.

„Sie wollen fort?“ fragte er.

Sie schloß die Thür ab. „Es ist wohl schon spät.“

„Hoffentlich vertreibe ich Sie nicht?“

„O–h!“

„Sie erlauben, daß ich Ihnen bis zum Wagen das Geleit gebe –“

„Bemühen Sie sich meinetwegen nicht, Herr Assessor.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_680.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)