Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Den Damen des Hauses lauschte der Assessor sehr bald ihre kleinen Schwächen ab. Die Frau Consul überzeugte er, daß er der beste Freund ihres Sohnes gewesen sei. Mit Frau Selma Osterfeld schwärmte er gefühlvoll und entwickelte ihr die neuesten spiritistischen Probleme, für die sie sich halb gläubig interessirte. Bei Vera spöttelte er über dieselben Dinge. Er imponirte ihr durch seine Belesenheit und ließ noch weniger gelten als sie. Er hatte alle großen Gallerien gesehen und viele Ateliers berühmter Künstler besucht. Natürlich hatte er nun auch das beste Recht, über Kunst zu sprechen, gelegentlich auch zu witzeln. Vera nannte ihn einen sehr geistreichen Menschen, und damit war er es für die ganze Familie.
Helene schien Herr von Brendeln anfangs kaum zu beachten. Ein hübsches Mädchen – freilich! Aber doch nur etwas wie ein angenommenes Kind und dazu eine unglückliche Braut! Eine unglückliche, oder wie er sich selber ausdrückte: „verunglückte“ Braut war ihm eine sehr „peinliche“ Erscheinung. Er ging ihr gern aus dem Wege und begnügte sich, der Frau Consul und ihren Töchtern mit passenden Variationen über deren zarte Behandlung des armen Mädchens Elogen zu machen. Helene bemerkte wohl, daß er sich wenig um sie kümmerte, es kränkte sie aber durchaus nicht. Der Assessor war ihr recht unsympathisch, sie wußte selbst nicht warum. Sie dachte aber kaum einmal ernstlich darüber nach, so wenig interessant war er ihr.
Plötzlich änderte sich die Situation ganz auffallend. Herr von Brendeln schien nur noch für Helene Augen zu haben, mit Ungeduld ihr Eintreten zu erwarten, am Gespräch mit ihr das größte Vergnügen zu finden, ihren Rückzug aus der Gesellschaft als das Signal zu betrachten sich selbst möglichst bald zu empfehlen. Konnte er nicht neben ihr Platz nehmen, so stellte er sich hinter ihren Stuhl; durfte er sie nicht zu Tische führen, so wußte er’s doch geschickt so einzurichten, daß er ihr Nachbar links wurde oder ihr gegenüber zu sitzen kam. Das arme Mädchen müsse sich so verlassen fühlen, äußerte er sich zu der Frau Consul; es sei die Pflicht des Hausfreundes, sie mit besonderer Aufmerksamkeit zu behandeln. „Das bin ich schon meinem verewigten Freunde Robert schuldig,“ fügte er hinzu. über die Brillengläser hinweghimmelnd. Das rührte die gute Frau fast zu Thränen. Selma versicherte er, daß er eine besondere Passion für unglückliche Menschen habe und allemal sehr stark das Bedürfniß empfinde zu ihrer Aufrichtung nach Kräften beizutragen. Das fand sie sehr edelmüthig. Zu Vera sagte er:
„Wenn ich Sie so Arm in Arm mit meinem Vetter sehe – ich könnte neidisch werden. Aber meine Aussichten sind gering, einmal eines ähnlichen Glückes theilhaftig zu werden. Ich bin zu kritisch, und eine zweite Vera Berghen giebt’s nicht. So ist’s am besten, ich lasse das Suchen ganz, wenigstens so lange ich Sie immer vor Augen habe, und wähle den Umgang der einzigen jungen Dame aus der Schaar Ihrer Freundinnen, die sicher nicht gefunden sein will. Fräulein Helene ist nicht besonders geistreich, aber man unterhält sich gut mit ihr. Und von Zeit zu Zeit haben Sie ja glücklicher Weise immer noch eine Minute für mich.“ Das war zu schmeichelhaft, um nicht ganz nach Wunsch zu wirken.
Der Einzige, der den wahren Grund dieser Umwandlung kannte, war Herr von Gräwenstein. Er selbst hatte sie durch eine wichtige Mittheilung veranlaßt. Unter Brautleuten darf es bekanntlich keine Geheimnisse geben. Als unter ihnen einmal auf Helene die Rede gekommen war und der Hauptmann sie wegen ihrer unsicheren Lage bedauerte, hatte Vera ganz unbefangen ausgeplaudert, daß ihr Bruder sie in seinem Testamente zur Erbin eingesetzt habe. „Wenn man will,“ hatte sie gesagt, „ist Helene reich und dazu ganz unabhängig. Wenn sie Robert’s Antheil herausforderte, würde man ihn ihr nicht weigern können. Freilich denkt sie selbst sicher am wenigsten daran. Es war ja auch eine bloße Form, die Robert anwendete, Helene fest an unser Haus zu schließen und ihr darin eine berechtigte Stellung zu geben. Sie wird da zeitlebens gut aufgehoben und jeder Sorge entledigt sein. Helene ist ein gutes Mädchen und wird nicht vergessen, wem sie Dank schuldig ist.“
Der Hauptmann hatte so seine eigenen Gedanken darüber. Wenn er das früher gewußt hätte, vielleicht …. Er brauchte unter allen Umständen bald nach der Hochzeit eine nicht unerhebliche Summe baar, um sich mit seinen Gläubigern zu arrangiren, und Vera blieb von ihrer Mutter abhängig, die sich wieder hinter Osterfeld zurückziehen konnte. Nun war’s für ihn zu spät. Aber sein Vetter konnte vielleicht daraus Nutzen ziehen. Und wenn der schnell zum Ziele gelangte, hatte er ja freie Hand, auch seine Noth zu bedenken.
Er nahm daher Brendeln bei Seite und sagte zu ihm: „Du – ich weiß eine gute Partie für Dich.“ Brendeln zuckte die Achseln. „Nein, wahrhaftig, eine famose Partie. Aber man muß es geschickt anfangen.“ „Das wäre meine Sache,“ meinte der Assessor. Der Hauptmann lachte: „Nu – ein hübscher Kerl bist Du gerad’ nicht, und das spricht bei den Frauenzimmern denn doch immer mit.“ „Dummes Zeug,“ knurrte Brendeln, „Du hast mich zum Besten.“ – „Wahrhaftig nicht.“ – „Ist sie denn jung –?“ – „Kaum zwanzig.“ – „Hübsch –?“ – „Sehr hübsch.“ – „Und natürlich reich.“ – „Natürlich, sonst würde ich Dir gar nicht davon sprechen.“ – „Aber, zum Teufel! es ist doch ein Haken dabei?“ Der Hauptmann klopfte ihm die Backe. „Du liebe Vorsicht! An diesem Haken hängt nichts, was Dich sonderlich beschweren darf. Das Mädel ist schon einmal verlobt gewesen.“ – „Ah! Das thut nichts.“ – „Aber der Bräutigam ist gestorben.“ – „Um so besser.“ – „Wer weiß? Die Braut hat die ernstliche Absicht, ihm treu zu bleiben.“ Der Assessor lächelte. „Von wem sprichst Du denn?“ Nun wurde der Schleier gelüftet. Herr von Brendeln war sehr überrascht, wußte sich aber bald zu fassen. „Das ist mir aufrichtig lieb zu hören,“ sagte er. „Ich habe für das schöne und liebenswürdige Mädchen längst eine tiefere Neigung gefaßt. Es wäre früher Thorheit geweden, sich ihr gefangen zu geben; jetzt hat’s weiter keine Gefahr.“
Seitdem also hatte Helene sich seines ausgezeichneten Wohlwollens zu erfreuen. Sie war ganz ahnungslos und legte deshalb auch seiner plötzlichen Annäherung kein anderes Motiv unter, als daß er sich erinnere, einer so nahen Angehörigen des Hauses Rücksicht schuldig zu sein.
Er fing es sehr geschickt an, sich in ihr Vertrauen zu bringen und sie zugleich auszuforschen. Immer wußte er dem Gespräch eine Wendung zu geben, die darauf hinleitete. „Es steht geschrieben,“ äußerte er sich ein andermal, „seid fröhlich mit den Fröhlichen und traurig mit den Traurigen, oder so ähnlich. Die Vorschrift ist nicht sonderlich schwer zu erfüllen. Denn echte Fröhlichkeit steckt an, wie echte Trauer. Sehe ich einen herzlich lachen, so verziehen sich unwillkürlich auch meine Lachmuskeln; sehe ich einen schmerzlich weinen, so fließt mir das Wasser in’s Auge, er mag mich sonst so wenig angehen, als er will. Aber es giebt eine conventionelle Fröhlichkeit und eine conventionelle Traurigkeit sich dazu angemessen zu stellen, ist oft eine sehr peinliche Zummuthung.“
„Das habe ich tausendfach empfunden,“ bestätigte Helene. „Wir haben eigentlich gar kein Recht, Andere daran zu erinnern, daß uns einmal etwas recht Trauriges begegnet ist, sobald wir selbst uns nicht mehr vom Verkehr mit den Menschen ausgeschlossen fühlen. Ich thu’s ungern.“
„Der Sitte muß man sich fügen,“ meinte er. „Aber es empfiehlt sich, da auf den Tag pünktlich zu sein, weil die kleinste Zugabe schon eigentlich jede Grenze aufhebt. Es ist ja eben nur von der Form die Rede, nicht von dem Wesen der Sache. Sie wissen, mein Fräulein, daß ja selbst die Farbe der Trauer rein conventionell ist.“
Sie stimmte so willig zu, daß es ihm unmöglich entgehen konnte, wie in ihrem Gemüth das Pflänzchen Unmuth schon ganz strebsam gekeimt hatte.
„Ich würde es sehr bedauern,“ fuhr er fort, „wenn Sie sich die schönsten Lebensjahre verkümmerten. Ich denke, wir haben gar kein Recht, der Welt zu entsagen, die ja ihre Ansprüche an uns keineswegs aufgiebt. Es mag das schlaffen und sentimentalen Naturen eine Erleichterung erscheinen; sie verlieren immer sogleich sich selbst. Wer sich aber gesund fühlt, wird allemal fragen, was er Anderen sein kann; und mit zwanzig Jahren, liebenswürdig, schön –“
Nun sah sie erschreckt auf. „Herr Assessor –“
„Ich sage nur die Wahrheit,“ versicherte er, „und zu welchem Zweck? Um Ihnen zu beweisen, daß wir Gott unser Leben schuldig sind, unser ganzes Leben. Wie kommen wir dazu, abschließen zu wollen, bevor er abschließt?“
Dergleichen Reden beunruhigten sie nicht wenig. Herr von Brendeln wurde ihr durch dieselben kaum vertrauter – so ernst er sprach, der ganze Mensch hatte etwas in seinem Wesen, das dazu nicht recht zu stimmen schien – aber da die Saite, die er
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_679.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2023)