Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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eifrig bei jeder Gelegenheit über einen Gegenstand, der in mir die trübsten Erinnerungen wecken muß? Daß Osterfeld, sowie er sie sah, auch das Testament seines Schwagers vor Augen hatte, ahnte sie freilich nicht. Wie hätte ihr das einfallen können, da sie auf diese letztwillige Erklärung nie ein größeres Gewicht gelegt hatte, als daß sie auch darin einen Beweis von Robert’s tiefer Neigung schätzte.
Auch Vera hätte sie sich bei ganz freier Wahl nicht gerade zur Freundin ausgesucht. Sie war in ihrer äußeren Erscheinung der Gegensatz zu der viel älteren Schwester, eher klein als groß, voll und, wie man sagt, blühend, wie eine Rose. Doch fehlten ihr die zarten Farben dieser Blume; bei ihrem lebhaften Temperament erhitzte sie sich leicht und ärgerte sich dann über ihre rothen Backen. Sie hielt auf die neueste Mode und war auf drei der ersten Fachzeitungen abonnirt, konnte aber sehr ungehalten sein, wenn man sie auch nur im Scherze beschuldigte, diesen Dingen irgendwelche Wichtigkeit beizulegen. Sie wollte eher für eine Gelehrte gelten, besuchte wissenschaftliche Vorlesungen „interessanter“ Professoren und las Bücher, die sie nur zum kleinsten Theil verstand. Sie war Dilettantin in mancherlei Künsten, ihrem Können aber stets um mehrere Stationen voraus. So übte sie nur die schwierigsten Clavierstücke, ohne sie je zu bewältigen, und sprach mit Bedauern von den Leuten, die hübsche Musik machen. Sie behauptete, Partituren lesen zu können, und bildete es sich sicher auch ein. Sie malte in Oel, modellirte auch gelegentlich, um „ihren Farbensinn zu bilden“. In der Kunstgeschichte war sie so weit beschlagen, eine Reihe von Namen hersagen zu können, die den Laien verblüffen mußten. Auch verfügte sie über eine gewisse Zahl von Kunstausdrücken und machte davon namentlich in Bilderausstellungen verschwenderischen Gebrauch. Im Salon zu glänzen war ihr geheimster Ehrgeiz. Sie konnte aber auch sehr gefühlvoll sein und besaß in bewunderungswürdigem Maße das Talent, „sich aussprechen zu können“. Wie gern sie es übte, wußte Helene.
Ob Herr von Gräwenstein der richtige Mann für sie sei, konnte bezweifelt werden. Er war ein tüchtiger Soldat, verwandt und verschwägert mit hohen Militärs und sonstigen Großwürdenträgern und hatte auf ein gutes Avancement zu rechnen – wenn ihn seine Schulden nicht unmöglich machten. Davon hatte er gerade so viel aufgesummt, daß er die Verpflichtung fühlte, sich nach einer reichen Partie umzusehen. Er sprach nicht Französisch und Englisch, spielte nicht Clavier – um so fertiger freilich Karten – war wenig belesen, außer in amüsanten Romanen, deren Titel er doch nie behalten konnte, verstand von Kunstsachen gar nichts und verließ sich überall mit Vorliebe auf seinen „prakischen Verstand“. Seine Witze waren oft nicht die feinsten, aber in Damengesellschaft erfreute er sich großer Anerkennung wegen seines frischen, munteren Wesens, seiner kecken Galanterie und seiner Fertigkeit im Tanz. Mit diesen Eigenschaften konnte er kaum erwarten, bei Vera Berghen sein Glück zu machen. Doch fing er’s geschickt genug an, sie für sich zu interessiren, indem er sich ihr auf Gnade und Ungnade ergab. Er stellte sich womöglich noch unwissender, als er war, um ihr ganz staunende Bewunderung ihrer „riesigen“ Kenntnisse und Talente beweisen zu können. Das schmeichelte ihr. Welches Glück, dem Herrn Gemahl stets als ein höheres Wesen zu erscheinen, gegenüber dem rauhen Militär als die Vertreterin von Kunst und Wissenschaft zu glänzen! Diese Erwägungen gaben rasch die Entscheidung. Die Verlobung wurde gefeiert.
Und nun verstand es sich auch ganz von selbst, daß sie ihren Bräutigam liebte, stets geliebt hatte. Helene mußte sich ihre verschwenderischen Gefühlsergüsse gefallen lassen. Sie hätte ja erfahren, was Liebe sei. „Jetzt kann ich erst die ganze Größe Deines Verlustes ermessen!“ rief sie. „Wie hast Du ihn nur überleben können? Wenn ich denken sollte … o, ich müßte den Verstand verlieren! Was ist das Leben ohne Liebe? Eine Welt ohne Sonnenschein. Kann man sich denn wirklich in sie hineingewöhnen? Deine Seelenstärke ist bewundernswerth. Und daß Du nun täglich daran erinnert werden mußt, was Dir das tragische Geschick unbarmherzig geraubt hat! Ich will Dir’s nicht verdenken, wenn unsere Freude Dich traurig stimmt. Nimm auf uns keine Rücksicht und ziehe Dich zurück, so oft Dir’s so um’s Herz ist. Ich werde Dich bei Gräwenstein zu entschuldigen wissen. Das Bild unseres theuren unvergeßlichen Robert wird Dir stets die liebste, die einzig befriedigende Gesellschaft sein.“
Helene fühlte sich verletzt durch dies zudringliche Mahnen. Sie vermißte den herzlichen Ton echten Mitleids. Es war so viel Schellengeklingel dabei.
Mama Berghen hatte aber ganz Recht gehabt: Die Verlobung gab rasch dem stillen Hause ein ganz verändertes Ansehen. Gräwenstein setzte überall die heitere Stimmung voraus, in der er sich selbst befand. Nachdem die pflichtschuldigen Visiten – deren gab’s eine Unzahl, da Civil und Militär gleichmäßig bedacht werden mußten – glücklich abgethan waren, meldeten sich nun die Gegenbesuche. An den Vormittagen blieb der Salon selten eine halbe Stunde leer. Mehrere entfernter wohnende Verwandte reisten zu und nahmen in dem gastlichen Hause Quartier. Der Bräutigam führte seine Cameraden ein. Vera hatte in literarischen und künstlerischen Kreisen Bekanntschaften, die ihre Gratulationen nicht versäumten. Das Fräulein versicherte, daß ihre „Beziehungen zu Kunst und Wissenschaft“ keine Unterbrechung erfahren würden; zur Zeit ließ sie sich doch durch die muntere Unterhaltung der Officiere am liebsten fesseln.
Die Frau Consul war so in Anspruch genommen – auch für eine glänzende Ausstattung mußte ja gesorgt werden – daß sie nur mit Mühe die zum Besuche des Kirchhofs bestimmte Stunde erübrigen konnte. Endlich gab sie den Bitten ihrer Töchter nach, sich zu schonen und ruhigere Zeiten abzuwarten. Helene aber sollte nicht gehindert werden. Jedesmal trug die Mama ihr die zärtlichsten Grüße an Robert auf. Sie ließ ihn förmlich um Entschuldigung bitten, daß ihre mütterliche Liebe sich jetzt so schlecht bewähre. „Aber seine Braut soll er auch jetzt nicht vermissen.“ Für Helene wiederholten sich diese Begleitreden, fast genau mit denselben Wendungen, so oft, daß sich der Eindruck bald abstumpfen mußte. Sie saß ein halbes Stündchen unter den sich immer dichter belaubenden Bäumen und hörte dem Gesange der Vögel zu. Die Nachtigall schien ihre schönsten Lieder für ihr Kommen zu sparen. Helene war ganz zufrieden damit, allein gelassen zu sein. Sie durfte sich nun keinen Zwang anthun. Mit den Todten sprach sie nicht, auch nicht in Gedanken. Längst war innerlich erschöpft, was sie ihnen zu sagen hatte. Aber sie nahm regelmäßig ein Weißbrödchen mit, zertheilte es in kleine Krumen und warf sie den Vögeln hin. Bald war sie ihnen so bekannt, daß sie vom Eisengitter hinab hüpften und sich auf die Bank dicht neben sie wagten. Diese Fütterung war nun ihr größtes Vergnügen.
Sie dachte auch nicht daran, sich von der Gesellschaft ganz zurückzuziehen; es schien ihr ausreichend, daß sie sich mit einem möglichst stillen Antheile begnügte. Das unbehagliche Gefühl, sich im Traueranzuge zeigen zu müssen, konnte sie freilich nicht ganz loswerden. Trat sie ein, so verstummte im Kreise der Lustigen eine Weile das laute Lachen; wer mit ihr sprach, dämpfte den Ton. Die Damen des Hauses meinten andeuten zu müssen, daß sie sich durch ihr Erscheinen ein Opfer auferlege. Und ihr selbst war gar nicht so zu Muth; sie hätte recht froh sein können mit den Fröhlichen, wenn sie nicht so von außen her verstimmt worden wäre.
Unter den näheren Verwandten des Hauptmanns, die nun häufig im Hause verkehrten, war auch der Regierungsassessor von Brendeln, ein Mann erst Anfangs der Dreißiger, aber von jedem Fremden, und namentlich von jungen Damen, älter geschätzt. Sein fast über der Mitte der hohen Stirn gescheiteltes Haar war schon recht dünn und deckte nach hinten hin die Platte trotz aller Kunst des Friseurs nicht mehr vollkommen. Die über der scharfen und spitzen Nase strichartig aufgezogenen Augenbrauen und das schwarze Lippenbärtchen, dessen Zipfel dieselbe Richtung aufwärts nahmen, gaben dem bleichen, fast hageren Gesichte etwas Keckes, Gespanntes. Er trug eine Brille ohne Einfassung, und hatte die Gewohnheit, öfters mit gebücktem Kopfe über dieselbe hinweg zu sehen, wenn er einen entfernteren Gegenstand fixiren wollte.
Wenn er nicht sprach, schob er meist die Unterlippe ein wenig vor, wodurch Mund und Kinn einen übermüthigen Zug erhielten. Uebrigens galt er für einen vollendeten Cavalier. Gräwenstein behauptete in seiner derben Manier, sein Vetter Brendeln sei „der klügste Kerl“, der ihm im Leben vorgekommen sei. Er habe große Aussichten und müsse jedenfalls in das Ministerium. „Strebt auch nach Kräften,“ fügte er leiser hinzu, „ist immer der Meinung seines Präsidenten – aus Ueberzeugung natürlich. Muß Carrière machen. Es fehlt ihm nur noch eine gute Partie.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_678.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2023)