Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
No. 42. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Braut in Trauer.
Als Helene genesen war, legte ihr eines Tages die Frau Consul eine Schrift vor. „Ersieh daraus,“ sagte sie, „wie sehr er Dich geliebt – selbst vor seinen nächsten Verwandten bevorzugt hat.“
Sie las sein Testament. Robert hatte sie zu seiner Universalerbin eingesetzt.
„Nein, nein!“ rief sie, „das darf nicht sein, das will ich nicht. O mein Gott, wenn Jemand glauben könnte …“
Frau Berghen beruhigte sie. „Ich denke, wir kennen einander,“ sagte sie. „Mein theurer Robert hätte sich diesen Act sparen können. Es verstand sich von selbst, daß seine Braut mein Kind blieb. Ich würde Dich bedacht haben, wie meine anderen Kinder – seinetwegen, und weil in meinem Herzen kein Unterschied ist. Ich habe keinen Sohn mehr – Du bist mir seine Verlassenschaft. Ich weiß, daß Dein ganzes Leben, wie das meinige, der Trauer um den geliebten Todten geweiht sein wird. Leben wir denn in gleichem Leide einander zum Trost.“
Helene sank an ihre Brust und weinte sich recht satt. „Die Welt hat keine Freuden mehr für mich,“ schluchzte sie. „Ach! daß ich ihm nicht folgen kann! Für mich ist er in den Tod gegangen."
„Für Dich! Vergiß das nie," mahnte die Mutter.
Das Mädchen umarmte sie von Neuem. „Wie könnte ich das je vergessen?“
Helene hatte nicht vergessen – gewiß nicht. Sie war noch immer, wie am ersten Tage, überzeugt, nie vergessen zu können. Aber unmerklich hatte die Trösterin Zeit ihren Heilbalsam in die Herzenswunde geträufelt. Sie war thätig im Hause, beschäftigte sich mit Handarbeit zu wohlthätigen Zwecken, las viel, musicirte und malte. Wenn sich so der Tag mit nützlichen Dingen füllte, empfand sie so viel Wohlsein, als sie glaubte auch in ihrer Abgeschiedenheit nicht entbehren zu dürfen.
Sie hieß noch immer „Robert’s Braut“. Wenn man von ihr sprach, nannte man sie kaum anders, auch in ihrer Gegenwart. Was sich von kleinen Andenken an ihn auffinden ließ, wurde ihr zugetragen. Die Möbel seines Zimmers wanderten in das ihrige, seine Bücher, seine Briefmappe, seine Taschenbüchelchen, seine Abbildungen von edlen Rennpferden und wilden Jagden, seine Sammlungen aus der Knabenzeit, seine Schulhefte und Geburtstagszeichnungen, seine Uhr mit Kette, selbst seine Waffen, auf die er viel gehalten hatte. Photographien aus jedem Lebensalter hingen an den Wänden, standen auf zierlichen Gestellen, füllten ein kostbares Album. Noch nach seinem Tode war er in ganzer Figur von dem geschicktesten Künstler der Akademie gemalt, dann für sie nochmals copirt. Trat sie in ihr Zimmer, so empfing er sie; überall war er ihr gegenwärtig.
Die Schwestern wetteiferten mit der Mutter, das Andenken an den Verstorbenen zu einem wahren Cultus zu stempeln. Doch hatten sie nach einem Jahre die Trauerkleider abgelegt – sich der Sitte gefügt, wie sie sagten. Das Haus, in dem früher ein so lebhafter, gesellschaftlicher Verkehr unterhalten wurde, konnte sich nicht dauernd in ein Kloster verwandeln. Frau Selma Osterfeld bewohnte die zweite Etage. Sie öffnete wieder ihren Salon, wenn auch zunächst nicht zu lauten Vergnügungen. Von solchen war sie überhaupt keine Freundin. Schlank gewachsen, fast hager und stets bleich, hatte sie es gern, wenn man sie für ein ätherisches Wesen hielt, für eine ganz unsinnliche Natur, für eine schöne Seele. Sie sprach immer sehr leise und etwas lispelnd, liebte die strengen Odeurs und fühlte ihre Nerven durch jedes Geräusch angegriffen. Sie gab am liebsten Thees, die spät anfingen und früh beendet waren. Eine kleine Vorlesung irgend einer hochpathetischen Dichtung war mitunter Beigabe. Ihr Mann hatte das Privilegium, sich an solchen geselligen Abenden immer nur einige Minuten blicken lassen zu dürfen, oder auch gänzlich fern zu bleiben. Der Aermste war leider durch das Geschäft so sehr in Anspruch genommen, daß er sich keine Mußestunden gönnen konnte. Das Verhältniß zwischen Beiden war schwer zu bestimmen. Sie begegneten einander vor Dritten immer mit ausgesuchter Zartheit, aber von innigeren Beziehungen war wenig zu spüren. Beide sprachen von ihrer „glücklichen Ehe“. Aus derselben war nur ein Kind hervorgegangen, ein Knabe von jetzt acht Jahren. Sie sehnten sich auch nicht nach Vermehrung der Familie. Selma war glücklich, diesem einen Sproß ihre ganze mütterliche Zärtlichkeit zuwenden zu können, Osterfeld nicht unzufrieden, daß das Vermögen „zusammenblieb“. In die Erziehung mischte er sich vorläufig wenig. Er behielt sich vor, später den dereinstigen Chef des Hauses Berghen u. Comp. für seinen Beruf vorzubilden.
Helene, so vorsichtig sie sich auch nach irgend einer Seite hin äußerte, fand Osterfeld kalt, Selma überschwänglich. Sie traute seiner Höflichkeit so wenig, als ihren wortreichen Freundschaftsbezeigungen. Auch die pietätvolle Verehrung für Robert schien ihr bei Beiden etwas Erkünsteltes zu haben, das sie verstimmte. Sie sprechen nicht, wie sie denken, mußte sie sich immer wieder sagen. Und warum sprechen sie überhaupt mit mir so
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_677.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)