Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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und nach verbluten. Und nun lebe wohl! Man wird zu Hause auf mich warten. Ich sehe bald wieder nach, wie Dir’s geht. Bis Walter kommt, dauert es ja auch noch eine Weile. Und nicht wahr, Du bist mir nicht böse, daß ich ihn verklagt habe? Ich wollte ihn auch gar nicht verklagen. Deinen Sohn! Wie könntest Du das denken! – Ach Gott, nun ist mir wieder recht schwer zu Muth. Aber es wird vorübergehen. Ade, Onkel Benjamin.“
Sie küßte seine Stirn und sein graues Haar, wischte eine Thräne von der Wange fort und verließ das Zimmer, ehe er ein Wort des Abschieds sagen konnte.
Die Uhren tickten ruhig weiter.
Helene Grün war die einzige Tochter des verstorbenen Kaufmanns Emil Ferdinand Grün, dessen Name einmal an der Börse den hellsten Klang hatte. Er besaß eines der ersten Getreidegeschäfte in dieser Stadt, deren Wohlstand vornehmlich auf dem Getreidehandel basirt. Eine schwere Krankheit, in die er nach dem frühen Tode seiner geliebten Frau gefallen war, hinterließ bei ihm eine Reizbarkeit der Nerven, die den sonst so soliden Kaufmann zu waghalsigen Speculationen trieb und schließlich in der Gefahr um alle ruhige Ueberlegung brachte. Seine Gegner benutzten die Nothlage. Er machte Bankerott. Für sein einziges Kind konnte er nichts retten. Das zehrte an seinem Herzen; der Concurs war noch im Gange, als er sich auf’s Krankenbett legte und nach schweren Leiden starb. Es hieß, er habe keine Nahrung angenommen und dadurch sein Ende beschleunigt.
Helene war damals erst sechszehn Jahre alt. Sie hatte von den Sorgen ihres Vaters, von der Gefahr, in der er die letzte Zeit schwebte, keine Ahnung gehabt, ihr junges Leben in vollen Zügen genossen. Plötzlich mußte sie erfahren, daß sie ganz arm sei, und bald darauf der Leiche des theuersten Menschen folgen.
Der Onkel Benjamin Grün hatte sich ihrer angenommen. Die Vettern standen nicht sonderlich mit einander. Der Kaufmann fürchtete, durch häufigere und freundschaftliche Besuche zu beschweren, der Handwerker zu geniren. Keinem Theil fehlte es an Wohlwollen, aber die Lebensbedingungen und wohl auch die Charakere waren zu verschieden. Nun gab es für Onkel Benjamin keine andere Rücksicht, als die auf das gute Herz. So sehr er sich einschränken mußte, um das verwöhnte junge Dämchen bei sich aufnehmen zu können, keinen Augenblick hatte er doch geschwankt. Selbst das Opfer hatte er nicht gescheut, seinen Sohn, den Studenten, auszuquartieren.
Helene zeigte den besten Willen, sich in ihre Lage zu schicken. Sie sah ein, daß sie dem guten Onkel nicht für ungemessene Zeit zur Last fallen dürfe. Es stellte sich bald heraus, daß sie im väterlichen Hause vielerlei gelernt hatte, aber das Wenigste so planmäßig und gründlich, daß sie davon prakischen Nutzen ziehen konnte. Dessen wurde sie sich erst bewußt, als Walter sie examinirte. Es war das ihr eigener Wunsch gewesen; nun aber fühlte sie sich leicht verletzt, wenn sie schlecht bestand. Sie glaubte zu bemerken, daß er ein grausames Vergnügen dabei empfand, die Blößen ihres Wissens aufzudecken, um sich in seiner Ueberlegenheit zu zeigen, oder gar mit seinen Schulkenntnissen vor ihr zu glänzen. Er fing’s wirklich nicht sonderlich geschickt an, sich ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war seine Art, überall die Dinge in ihrem ganzen Ernst zu nehmen und so wenig sich selbst als Andern Concessionen zu machen. Auch als sie dann das Seminar besuchte, um sich zu einer Stellung als Lehrerin vorzubereiten, hatte er fortwährend an ihrer Beschäftigungsweise zu kritteln. Manchmal wieder war er wunderlich sentimental, saß schweigsam ihr gegenüber, sah sie unverwandt an und seufzte, als ob ihn ein tiefes Leid drückte; oder er philosophirte weltschmerzlich und erklärte unverstanden zu bleiben. Dann wußte Helene gar nicht, was sie aus dem Vetter machen sollte. Suchte sie seine finstere Stimmung fortzunecken, so schien er jedesmal tief gekränkt; auf ernste Fragen, was ihn bekümmere, antwortete er aber in räthselhaften Wendungen. So fühlte sie sich in seiner Gegenwart immer bedrückt und unfrei. Nur mit Mühe konnte sie den Argwohn abwehren, daß er sie nicht möge, weil sie ihn halb und halb aus dem väterlichen Hause verdrängt habe. Und nun mußten doch noch ein paar Jahre hingehen, bis sie selbstständig für sich sorgen konnte! Was dann geschah, um die Situation plötzlich völlig zu ändern, hatte kein Theil auch nur im Traum vorausgesehen.
Der gefährlichste Concurrent Grün’s war der Consul Philipp Berghen gewesen, der ein altes, höchst solides Geschäft vertrat und bedeutendes Capital zur Verfügung hatte. Er hatte Grün, der bei seinem Vater die Handlung gelernt, längere Zeit freundschaftlich unterstützt und im Geschäft gefördert. Erst als Berghen’s älteste Tochter Selma seinen Buchhalter Osterfeld geheirathet hatte, dieser nun Compagnon geworden war und seinen geschäftlichen Einfluß täglich ausdehnte, änderte sich das Verhältniß. Osterfeld glaubte, bei irgend einer Gelegenheit einmal von Grün eine persönliche Kränkung erfahren zu haben, und trug ihm dieselbe nach. Der Consul, schwach von Charaker, seiner Tochter zärtlich zugethan und immer geneigt, dem Hausfrieden Opfer zu bringen, ließ sich unschwer von dem alten Freunde abdrängen und durch den ebenso geschäftskundigen als energischen Schwiegersohn auf andere Bahnen leiten. Nun entstand eine Rivalität zwischen beiden Häusern, die geradezu in Feindschaft ausartete, als Grün sich auf gewagte Speculationen einzulassen begann, die doch, wenn sie gelangen, ihm an der Börse einen Vorrang schaffen konnten. Berghen rieth, den Verlauf abzuwarten. Aber Osterfeld, mochte er nun wirklich besorgt sein oder nur begierig den Vorwand ergreifen, ging mit dem größten Eifer daran, die Gegner des lästigen Rivalen unter einen Hut zu bringen, überall Contreminen zu legen, seine Verbindungen zu untergraben. So kam es, daß schließlich Grün seinen Fall vornehmlich dem Hause Berghen u. Comp. zu danken hatte.
Consul Berghen hätte das Mißbehagen über diesen Ausgang des Kampfes, in dem er doch Sieger geblieben war, vielleicht nicht so schwer empfunden, wenn dem Fall des Hauses Grün nicht bald darauf auch der Tod seines letzten Inhabers gefolgt wäre. Seine Gewissenhaftigkeit kam über den Vorwurf nicht hinweg, daß er einen Theil der Schuld dieses frühen Hinscheidens trage, und die Beschäftigung mit diesen Gedanken wurde um so peinlicher, als er nachträglich bei einer Durchsicht der Bücher und Correspondenz sich meinte überzeugen zu müssen, daß Osterfeld schließlich nicht einmal vom kaufmännischen Standpunkt ganz lautere Mittel angewendet gehabt, den verhaßten Gegner niederzuwerfen. Von dieser seiner Einsicht in die Verhältnisse konnte er freilich nichts verlauten lassen, ohne Streit in die Familie zu bringen. Als aber nach kaum einem Jahre sein Brustleiden sich plötzlich so arg verschlimmerte, daß er an sein Ende denken mußte, fand er keine Ruhe, bis er seinen einzigen Sohn Robert, künftigen Chef des Hauses, an sein Krankenlager berufen und ihm das Kind des früheren Freundes empfohlen hatte. Er verhielt ihm nichts von dem, was er wußte. Er gedenke ihm keine bestimmte Vorschrift zu machen, sagte er ihm, von seinem guten Herzen und seiner edelmüthigen Gesinnnug erwarte er aber die freundlichste Berücksichtigung seiner Wünsche. Er selbst wolle in Frieden mit allen Seinigen sterben, und bitte ihn daher diesen Auftrag geheim zu halten.
Robert wußte wohl, daß der Kaufmann Grün eine Tochter hatte. Vor einer Reihe von Jahren, als die Familien noch in einer Art von gesellschaftlichem Verkehr standen, hatte er das kleine Mädchen auch öfters gesehen und sehr niedlich gefunden. Dann aber war er zu seiner geschäftlichen Ausbildung nach Hamburg und demnächst auf weite Reisen geschickt. Das hübsche muntere Kind war seinem Gedächtniß ganz entschwunden, als er in’s Vaterhaus zurückkehrte. In die geschäftlichen Angelegenheiten des Hauses mischte er sich nicht weiter ein, als seine Dienste gefordert wurden. Er lebte wie ein junger Cavalier und trieb allerhand Sport, wozu es dem einzigen, von der Mutter verhätschelten Sohne eines reichen Hauses an Mitteln nicht fehlte, suchte mit Vorliebe den Umgang mit Cavallerie-Officieren und setzte besonders seinen Stolz darein, die schönsten Pferde im Stall zu haben und für einen untadelhaften Reiter geachtet zu werden.
Er hatte das kleine Fräulein Grün gänzlich vergessen; nicht einmal der Vorname war ihm erinnerlich, als sein Vater ihm von der armen Waise sprach, der er sich in gewisser Hinsicht verschuldet fühle. Robert war allezeit ein guter Sohn gewesen. Im Aeußeren seiner Mutter sehr ähnlich, die einmal für schön gegolten hatte, harmonirte er im Charakter eigentlich mehr mit dem Vater, dessen weiches Gemüth auf ihn übergegangen war. So freute er sich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_662.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)