Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
in die winklige, steile Altstadt hinauf. Wo die Straße freier wird, erblicken wir den Aufgang zu dem Bergschlosse vor uns. Der Burgberg erscheint hier, wo wir den Südabhang sich fast senkrecht aus der Ebene erheben sehen, höher und steiler, als von Princes’ Street aus.
Edinburgh Castle ist heutigen Tages eine Caserne. Daran gemahnt uns die breitschultrige Schildwache in Hochland-Uniform, die, wie alle englischen Soldaten, auf Wache eilig auf- und abläuft und scharf Kehrt macht. Es ist fast selbstverständlich, daß sich in früherer Zeit auch ein Staatsgefängniß hier befand. Das allererste Gebäude, welches der Besucher betritt und unter welchem der Aufgang zum Schlosse durchführt, enthält den Kerker, in welchem der Marquis von Argyle die letzte Nacht vor seiner Hinrichtung zubrachte.
Nachdem wir, langsam aufsteigend, den Gipfel des Berges erreicht haben, entfaltet sich vor unseren Augen ein Landschaftsbild von überraschender Großartigkeit. Edinburgh Castle ist mit der Akropolis von Athen verglichen worden. Rings um den Burgberg lagert ein schornsteinreiches Häusermeer; an dem malerischen Calton Hill vorbei wogt es nach der in Rauch gehüllten Hafenstadt Leith, dem schottischen Piräus, hinab. Dahinter der glitzernde Meerbusen des Forth, zwischen der nach Norden biegenden Südküste und den edelgeschwungenen Bergen von Fife, dem schottischen Argos, in den deutschen Ocean hinausrollend. Es fällt nicht schwer, sich ein im Meerbusen liegendes Eiland als Aegina vorzustellen. Hinter uns streben die Arthur’s Seat[WS 1] und Salisbury Craigs[WS 2] genannten Hügel empor; in größerer Entfernung thürmen sich die Portlandberge auf.
Wer das Schloß besucht, ist auf den Anblick zweier Zimmer gespannt, welche Maria Stuart als Gemahlin Darnley’s bewohnte. In dem ersten hängt ein in Oel gemaltes Bildniß der Fürstin. Es entspricht nach meiner Meinung am meisten dem Eindrucke, welchen ihre Lebensschicksale hervorrufen. Leider ist es von allen Abbildungen der Königin am wenigsten bekannt. Die Photographien geben auch nicht im Entferntesten den Charakter des Gesichtchens wieder: die Heiterkeit, die Herzensgüte, die unbewußte Sinnlichkeit, kurz, das ewig Weibliche ihrer Erscheinung. Kein Zug, der auf geistige Kraft oder Energie des Charakters schließen ließe! Die Natur hat sie dazu bestimmt, in friedlicher Zeit zu leben, zu lieben und geliebt, bewundert, angebetet zu werden. Welches muß ihr Loos sein, wenn sie ohne den Schutz eines Vaters, eines Bruders, eines Gatten, umgeben von Intriguanten und Schurken, ohne königliche Macht, dem Ehrgeize und der Selbstsucht roher Barone preisgegeben wird!
Sie ist als die Braut des Dauphins dargestellt. Ein reicher Goldschmuck windet sich um das zarte Hälschen, unter dem zierlichen Häubchen drängt sich braunes, fein gekräuseltes Haar hervor. Die Stirn wölbt sich fast kindlich über den braunen, schelmischen Augen; jugendlich zart sind die unberührten weichen Lippen. Es ist schade, daß kein deutscher Maler in einer Copie, welche die verblichenen Farben des Originals aufblühen läßt, uns den ganzen holden Reiz dieses Antlitzes offenbart hat. In dem anstoßenden Zimmer gebar Maria Stuart Jakob VI. von Schottland, bekannter unter dem Namen Jakob I. Die aus dem sechszehnten Jahrhundert stammende, wohl erhaltene, getäfelte Decke ist in Fächer eingetheilt, auf welchen abwechselnd die von einer Krone überragten Initialen J. R. und M. R. angebracht sind. Auf der Wand unter dem schottischen Wappenschild steht eine Inschrift mit dem Datum: „19th IVNII, 1566“.
Beim Verlassen des Schlosses gelangt man in die ziemlich steil abfallende High-Street, die bedeutendste Verkehrsader der
Anmerkungen (Wikisource)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_649.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)