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Seite:Die Gartenlaube (1883) 643.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Aber wozu ein solches Versprechen, Mamachen?“ rief Helene, offenbar erschreckt und beängstigt. „Hast Du Grund, an mir zu zweifeln? Habe ich selbst Grund, mir die Fessel eines Gelübdes anzulegen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals anders empfinden könnte, als ich jetzt empfinde. Laß mir diese Zuversicht!“

Die Frau Consul war durch diese Antwort nur halb zufrieden gestellt.

„Liebes Kind,“ sagte sie, „das menschliche Herz ist schwach – tausend Erfahrungen sprechen leider dafür. Die Todten, meint man, seien todt, und man könne sie nicht mehr verletzen durch Vergessen. Aber sie sind nur todt, wenn man sie vergißt, und was ihnen entzogen wird, das wird denen entzogen, die ihr Andenken treu und unverbrüchlich bewahren. Eine Mutter kann des Sohnes Recht nicht verkümmern lassen in ihrem Herzen. Und darum, theuerstes Kind, wenn Du mich lieb hast, nimm allezeit freundliche Rücksicht auf meine eifersüchtige Schwäche. Ich will kein Gelöbniß verlangen. Zeige Dich mir aber immer so, als ob Du es gegeben hättest, und mein Dank soll Dir gewiß sein.“

Sie streichelte wieder ihre nun ganz kalte und schlaffe Hand. Helene sah vor sich hin auf die Erde.

„Wie ich auch nachdenke,“ entgegnete sie, „ich kann eine Veranlassung zu diesem sonderbaren Gespräche nicht finden, das mich ernstlich beunruhigen könnte. Ist mein Benehmen –“

„Nein, nein!“ unterbrach die alte Frau. „Ich habe Dir alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Und daß ich Dir’s nur gestehe – ich hatte dabei etwas im Sinn, woran Du nicht denken konntest. Vielleicht habe ich’s recht ungeschickt angefangen, da vorzusorgen. Aber Du sollst alles wissen, und am besten sogleich. Mein seit des theueren Robert’s Tode so stilles Haus wird sich bald wieder der Gesellschaft freier öffnen müssen. Herr Hauptmann von Gräwenstein hat gestern brieflich bei mir um meiner Vera Hand angehalten. Das Ereigniß war vorherzusehen, wie er sich in letzter Zeit zur Familie stellte. Er ist ein sehr achtbarer Mann, den mein guter Philipp, so wenig er sonst für das Militär schwärmte, gewiß gern zum Schwiegersohn angenommen hätte.“

Helene hatte auf der Bank eine halbe Wendung gemacht, um ihr besser in’s Gesicht sehen zu können.

„Ach!“ rief sie, „ist’s möglich? Aber Vera hat mir kein Wort gesagt.“

Die Frau Consul lächelte.

„Wie sollte sie? Der Herr Hauptmann hat sich natürlich erst meiner Zustimmung versichern wollen. Sie wird im Stillen vermuthet haben –“

„Es überrascht mich doch. Ihre Aeußerungen über Herrn von Gräwenstein waren nicht der Art.“

„Sie ist sich vielleicht wirklich ihrer Neigung erst jetzt recht bewußt geworden.“

„Das müßte es sein. Ich kann mir’s nur noch schwer zurechtlegen, wie diese beiden Menschen ein so inniges Verhältnis zu einander finden konnten. Vera ist eine so sensible Natur. Sie schien mir immer zu erschrecken, wenn er das Wort ergriff oder lachte.“

„Es ist für Vera gewiß ein Glück, daß sie eine feste Stütze für’s Leben erhält, wie sie ihrerseits wieder mildernd und veredelnd auf den Mann einwirken wird, der sie liebt. Ein sehr passendes Paar, denke ich. Wie dem sei, die Verlobung wird in den nächsten Tagen gefeiert werden, und es steht nichts im Wege, die Hochzeit sehr bald folgen zu lassen. Ein Brautpaar im Hause – das verändert gleich die ganze Situation. Ich verkenne nicht, liebstes Kind, daß Deine Lage eine schwierige ist. Eine gewisse äußerliche Betheiligung kann Dir nicht erspart bleiben, und doch darfst Du nicht vergessen, daß Du Deinem geliebten Todten um so mehr die zarteste Rücksicht schuldig bist. Ich meine, Du wirst Dich noch mehr – wie soll ich sagen? – klösterlich einschränken müssen, um Dein Wesen mit Deiner äußeren Erscheinung in Harmonie zu zeigen. Es ist Dir tiefstes Bedürfniß, das Trauerkleid nicht abzulegen; sorge nun aber auch dafür, daß man Dich so versteht … selbstverständlich , ohne die Gesellschaft zu verstimmen, die keinen Grund hat, sich Deinetwegen einen Zwang aufzulegen. Achte freundlich auf meine kleinen Winke, und Deine Aufgabe wird sich erleichtern. Du bist ja überzeugt, daß es Niemand auf der Welt mit Dir so gut meint, als ich, die Mutter Deines Robert. Und nun laß uns nach Hause eilen – es wird schon empfindlich kühl im Freien.“

Helene küßte ihre Hand, stand dann auf und öffnete die Gitterthür. Sie entgegnete nichts, aber ihre finstere Stirn und die gepreßten Lippen hätten eine Antwort geben können. Doch war sie auf dem Gange nach dem Wagen bemüht, die alte Dame davon nichts merken zu lassen. Während der Fahrt wurden nur gleichgültige Worte gewechselt. Erst in der Langgasse bat sie aussteigen zu dürfen, um dem alten Onkel Grün einen Besuch abzustatten, auf den er gewiß schon sehr lange warte. Frau Berghen widersprach nicht gerade, stimmte aber auch nur halb zu. Das Fräulein hielt den Entschluß fest und gab dem Kutscher das Zeichen zu halten.

„Darf ich Dir den Wagen schicken?“ fragte die Frau Consul.

Helene danke. „Ich möchte nicht so sehr an die Zeit gebunden sein,“ sagte sie und huschte fort.




2.

Der „alte Onkel Grün“ war Uhrmacher und hatte sein kleines Geschäft in einer lebhaften Seitenstraße. Er war ein Vetter von Helenens verstorbenem Vater und ihr einziger Verwandter in der Stadt, überdies ihr Vormund.

Die Frau Consul hatte gegen ihn nichts weiter einzuwenden, als daß er den alten Handwerksgebrauch beibehielt und an seinem Werktisch unter dem Fenster vom Morgen bis zum Abend fleißig arbeitete, statt in einem seinen Local den Uhrenhandel kaufmännisch zu betreiben. Die Bedürfnisse des Wittwers waren die mäßigsten; er begriff nicht, warum er sich Sorgen und Lasten aufbürden sollte, da ihn seine Geschicklichkeit doch gut nährte. Wirklich war er ein sehr gesuchter Arbeiter; wenn es ein besonders künstliches Werk zu repariren galt, wandte man sich nur an ihn und wußte ihn trotz des einfachen Schildes an seiner Thür und des schmucklosen Schaufensters allemal zu finden.

Als das Fräulein eintrat, saß er auf seinem gewohnten Platz im grauen Arbeitsrock, den grünen Blendschirm über der Stirn, die Augen mit einer mächtigen Brille bewaffnet, die einem kurzen Opernglase ähnlich sah. Vornübergebeugt setzte er mit einer feinen Zange ein kaum sichtbares Stiftchen in ein Uhrgehäuse ein. Unter einer Glasglocke neben ihm lagen noch mehr dergleichen zierliche Sächelchen, außerhalb aber die mannigfachsten Werkzeuge, Bürsten und weiche Läppchen. Er war so eifrig beschäftigt, daß er gar nicht umschaute, als die sich öffnende Thür eine Glocke über derselben in Bewegung setzte.

„Was steht zu Befehl?“ fragte er nur zurück.

Helene horchte ein Weilchen auf das Ticken der vielen großen und kleinen Uhren an den Wänden ringsum. Dieses Geräusch machte auf sie jedesmal denselben ganz eigenen Eindruck. Als Kind hatte sie immer behauptet, daß sie sich die Ohren zuhalten müsse, wenn sie sprechen wolle, da die Uhren gar so eifrig wären ihr zuvorzukommen. Der alte Herr mußte seine Frage noch einmal stellen.

„Guten Tag, Onkelchen,“ sagte sie nun und trat hinter ihn.

Er ließ sich nicht stören.

„Du bist’s, Lenchen!“ rief er nun, offenbar sehr erfreut. „Gieb mir einen Kuß auf die Backe, aber stoße mich nicht an, sonst fällt mir das da aus einander und ein Paar Stunden Arbeit sind umsonst. Ein sehr merkwürdiges Werk aus dem vorigen Jahrhundert, keine Fabrikwaare. Damals gab’s noch Uhrmacher, heut ist eigentlich nur noch der Name davon übrig geblieben. Die Maschinen schaffen’s auch accurater, aber an einer geschickten Hand hat man doch größere Freude. So eine alte Uhr ist etwas für sich, hat ihren eigenen Charaker. Was man jetzt kauft, ist immer nur eins von vielen Tausenden – eine langweilige Gesellschaft, Kindchen.“

Helene begrüßte ihn mit aller Vorsicht.

„Wende nur gar nicht den Kopf,“ bat sie; „ich setze mich hier zu einem gemüthlichen Plauderstündchen in Deine Nähe. Darf ich?“

„Lege doch ab. Wie geht’s, wie steht’s? Hast Dich lange nicht blicken lassen.“

„Es ist auch gar nichts Wichtiges vorgefallen, Onkelchen.“

„Und heut –?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_643.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2023)