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Seite:Die Gartenlaube (1883) 626.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Mit donnerähnlichem Tosen wälzte die Fluth schäumend und an den Felsblöcken hoch aufspritzend sich in dem Flußbette daher. Die Wassermassen, welche oberhalb im Thale sich gestaut, waren durchgebrochen und stürzten nun mit furchtbarer Gewalt abwärts.

Noch begriffen die Wenigsten die Gefahr, in der sie schwebten. Vor der über den Fluß führenden Brücke sperrten angeschwemmte Bäume und Stämme die Strömung. Mit lautem Krachen brach die Brücke zusammen, aber der gewaltigen Masse des Wassers war dadurch wenig Luft gemacht, es durchbrach den Uferdamm und stürzte nun, Steine und Holzmassen mit sich führend, die Dorfstraße hinab.

Ein lauter Angstschrei ertönte von Hunderten. Die zwischen dem Fluß und der Dorfstraße gelegenen Häuser schienen unrettbar verloren zu sein. Die Männer zerrten die Kühe aus den Ställen und brachten sie nur mit größter Mühe über die überfluthete Straße, die einem wilden Strome glich. Die Frauen suchten die Kinder zu retten mit Gefahr ihres eigenen Lebens. In dem maßlosen Gewirr dachte Jeder nur an sich und an die Rettung der Seinigen.

Die Sägemühle war am schwersten bedroht. Schon stürzte das Wasser durch dieselbe hin. Der Müller und die Seinigen hatten sich gerettet, auch der Oberburgsteiner hatte sich durch das Wasser Bahn gebrochen und war am Abhange niedergesunken.

In dem verzweiflungsvollen Geschrei der Frauen, welche um ihr Hab und Gut klagten, in dem Geheul der geängstigten Kinder fragte Niemand, ob Alle gerettet seien, hatten doch selbst beherzte Männer den Kopf verloren.

Da ertönte aus der Sägemühle ein banger Schrei. Die Moidl erschien am Fenster und rief nach Hülfe. Der Weg durch die Thür war durch die Fluth versperrt, das ganze Thal erschien wie eine wilde, schäumende Wassermenge.

„Sie ist verloren – die kann Niemand mehr retten!“ riefen die Leute erschreckt.

Da kam Hansel. Das Unglück im Thale hatte ihn von seinem Gehöft getrieben. Noch wußte er nicht, worum es sich handelte.

„Sie ist verloren,“ riefen ihm Mehrere zu.

„Wer? Wer?“ fragte er.

Da hatte die Unglückliche ihn erblickt und ihr Hülferuf: „Hansel, Hansel, rette mich!“ übertönte das wilde Brausen des Wassers.

Der Schreck schien Hansel’s Kraft zu lähmen, aber nur für einen flüchtigen Augenblick.

Sein Auge schweifte Hülfe suchend umher.

„Ein Seil – ein Seil!“ rief er dann laut.

„Du kannst sie nicht mehr retten – Du bist selbst verloren!“ riefen seine Freunde und suchten ihn zurückzuhalten von dem tollkühnen Vorhaben.

„Dann bin ich verloren! Ein Seil!“ entgegnete er.

Das Seil wurde gebracht. Mit bebender Hand schürzte er sich dasselbe um den Leib.

„Haltet – haltet!“ rief er den Männern zu und stürzte sich in die wilde Fluth.

Mehr denn zwanzig kräftige Hände hatten das Seil erfaßt. Mehr denn einmal stürzte der Kühne nieder und das Wasser rauschte über ihn hin.

„Er ist verloren!“ schrieen die Frauen, aber an dem Seil wurde er gehalten und er raffte sich jedesmal wieder auf. Selbst die beherztesten Männer bangten um ihn.

Hansel rang sich bis zur Sägemühle glücklich durch. An dem Fenster, an welchem Moidl stand, klammerte er sich an, um seine erschöpften Kräfte zu sammeln. Dann löste er das Seil von seinem Leibe und schlang es fest um einen Pfosten.

„Moidl – Moidl, nun komm!“ rief er und hob die Zitternde aus dem Fenster.

„Umklammere mich fest, fest, so, daß ich die Arme frei behalte! Um Gotteswillen, Moidl, halt fest!“

„Ich halte mich,“ entgegnete das Mädchen, mit beiden Armen seinen Hals umschlingend.

Dann suchte er, mit beiden Händen an dem Seile sich haltend, mit ihr durch den reißenden Strom zu gelangen. Und die Männer am Ufer hielten fest.

Kein Ruf ertönte. Die Angst um zwei Menschenleben hielt jeden Laut in der Brust zurück. Nur einige Mal schrieen einige Frauen auf, als mächtige Baumstämme gerade auf Hansel zutrieben. Sie mußten ihn vernichten. Aber ob sie ihn auch trafen und ihm die Glieder zerstießen, seine Hände hielten fest, langsam – langsam arbeitete er sich weiter.

Als er die Strömung überwunden hatte, schienen die Kräfte ihn zu verlassen, er wankte, aber jetzt waren sie gerettet. Mehrere Männer stürzten sich in das Wasser und trugen Hansel und Moidl bewußtlos an’s sichere Ufer.

Ein Schrei der Freude tönte aus mehr denn hundert Kehlen. Die Angst, die sie Alle ausgestanden, löste sich. Alle wollten den Geretteten beistehen.

Man rieb Beiden Stirn und Schläfen, man flößte ihnen Branntwein ein, und sie kamen langsam zu sich. Hansel’s Brust dehnte sich und rang nach Athem, als wenn ein schwerer, schwerer Stein von ihm genommen wäre.

„Das macht ihm Keiner nach!“ riefen Mehrere.

Der Oberburgsteiner allein schien von dem ganzen Vorgange nichts bemerkt zu haben. Er saß auf einem Steine und starrte vor sich hin.

„Der Hansel hat Deine Tochter mit Gefahr seines eigenen Lebens gerettet!“ rief ihm ein Bauer zu.

„Wer – wer?“ rief der Oberburgsteiner wie aus einem Traume auffahrend.

„Der Hansel!“

Die große Gestalt des Bauern zuckte zusammen, als er den ihn verhaßten Namen nennen hörte.

„Wo – wo ist er?“ rief er mit wildem Blicke.

Kaum zehn Schritte von ihm entfernt kniete Hansel neben der Geliebten, die sich schwerer als er erholte.

Hastig schritt der Oberburgsteiner auf ihn zu. Mit fester Hand erfaßte er ihn an der Schulter und riß ihn zurück.

„Das ist meine Tochter!“ rief er heftig.

„Oberburgsteiner, Du gehst zu weit! Er hat ihr das Leben gerettet!“ riefen mehrere Männer unwillig.

Die große Gestalt des Bauern richtete sich fest empor. Sein Auge leuchtete, um seinen Mund zuckte es.

„Wer will mir vorschreiben, was ich zu thun habe?“ rief er mit drohender Stimme. „Und wenn er sie hundertmal gerettet, so –“

Ein lautes, donnerähnliches Geräusch über ihm unterbrach ihn.

„Der Oberburgstein!“ riefen Hunderte zugleich erschreckt.

Das Gehöft, welches dort oben so manches Jahr in’s Thal hinabgeleuchtet, der ganze Berg schien herabzustürzen. Es wälzte sich krachend nieder, bis die gewaltigen Massen im Thale aufschlugen. Wie lauter, grollender Donner hallte es an den Bergwänden wieder.

Bestürzt blickten Alle einander an. Der Oberburgsteiner hielt noch immer den starren Blick nach oben gerichtet. Er sah sein Gehöft nicht mehr – da brach er mit lautem, unheimlich klingendem Lachen bewußtlos zusammen.




Es war am Tage nach diesem bangen Ereignisse.

Der Regen hatte aufgehört. Wohl war der Himmel noch mit grauen Wolken bedeckt, aber diese gingen hoch. Die Gefahr des Hochwassers war vorüber, der Fluß, der die Dorfstraße sich zu seinem Bette gewählt hatte, war bedeutend gefallen, die Straße war an verschiedenen Stellen mit Balken und Brettern überbrückt.

Wohin das Auge blickte, sah es nur Schutt und Steine. Die meisten Häuser waren bis zur Höhe der Hausthüren damit umgeben und erfüllt. Von der Sägemühle war nur noch der Rest einer Giebelwand, die aus dem Schutte hervorragte, zu sehen.

Jammer und Elend herrschten im ganzen Dorfe, die Felder waren verwüstet, Viele hatten Alles verloren, und nur eine Beruhigung war ihnen geblieben, daß kein Menschenleben vernichtet war.

Hansel, von dessen kühner That trotz des eigenen Elendes Alle sprachen, war von mehreren Freunden zu dem Gehöft seines Vaters geführt und fast getragen, weil die Kräfte ihm den Dienst versagten. Er lag mit zerschundenen Gliedern im Bette, er war nicht im Stande, sich ohne die heftigsten Schmerzen zu rühren, aber seine Augen leuchteten dennoch, denn er hatte die Geliebte gerettet.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_626.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)