Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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nicht sagen wolle. wo er während der Nacht gewesen sei; ich wußte, daß er es meinetwegen nicht gestehen wollt’, da faßte ich den Entschluß, Ihnen Alles zu sagen, damit er nicht länger unschuldig in Haft sitze.“
„Du hast recht gethan, Moidl!“ sprach der Richter, indem er dem Mädchen die Hand entgegenstreckte. „Hast Du dies Alles Deinem Vater gesagt?“
„Nein – nein! Er hätt’ es nicht gelitten, daß ich zu Ihnen gegangen wär’, denn er haßt den Hansel.“
„Weshalb?“
„Er weiß, daß derselbe mich liebt, und er ist ihm auch zu gering.“
„Nun, er wird seine Gesinnung jetzt ändern,“ bemerkte der Richter.
Traurig schüttelte das Mädchen mit dem Kopfe.
„Er ändert seinen Sinn nicht; ich weiß, daß mir harte Tage bevorstehen, ich will sie ertragen, wenn Hansel nur frei kommt. Er kommt doch frei?“
„Ich hoffe es,“ gab der Richter zur Antwort. „Wenn er mir bestätigt, was Du mir erzählt hast, dann halt’ ich ihn nicht eine Stunde länger in Haft.“
Glücklich erfaßte Moidl des Richters Hand und wollte sie an ihre Lippen führen.
„Laß – laß, Moidl,“ wehrte ihr der Richter. „Ich werd’ selbst mit Deinem Vater wegen Hansel sprechen.“
„Sie ändern seinen Sinn nicht. Hat er einmal einen Groll gefaßt, so hält er ihn fest.“
„Geh’ jetzt zur Messe, Moidl,“ fuhr der Richter fort. „Ich geb’ die Hoffnung nicht auf, daß sich für Dich Alles zum Guten wenden wird. Du hast viel ertragen, da gönn’ ich’s Dir.“
Das Mädchen ging.
Der Richter schritt in seinem Zimmer auf und ab. Nach des Mädchens Erzählung klärte sich Alles auf, aber er wollte sein Urtheil nicht gefangen nehmen lassen.
Er trat hinüber in die Amtsstube und ließ durch den Diener den Verhafteten vor sich führen.
„Nun, Hansel, hast Du Dich eines Andern besonnen?“ redete er den Eintretenden an. „Willst Du nun endlich Alles gestehen?“
„Ich hab’ nichts zu gestehen, Herr Richter,“ gab Hansel zur Antwort.
„Verlangt Dich denn nicht nach der Freiheit?“
„Doch, aber ich kann sie mir nicht geben.“
„Du kannst sie Dir geben,“ warf der Richter ein.
Hansel schwieg einen Augenblick, er schien mit sich zu kämpfen.
„Ich kann sie mir nicht geben,“ wiederholte er dann.
„Du hast einen festen Kopf,“ fuhr der Richter fort. „Soeben war die Tochter des Oberburgsteiners bei mir.“
Hansel fuhr zusammen, das Blut schoß in seine blassen Wangen.
„Die Moidl?“ fuhr es ihm über die Lsppen.
„Ja, die Moidl. Und sie hat mir gesagt, wo Du in der Nacht gewesen bist. Mit ihr bist Du zusammen gewesen, dort oben unter einem überhängenden Felsen.“
Hansel blickte den Richter starr an. Dann fuhr er mit der Hand über die Stirn hin.
„Das – das hat sie gesagt?“ fragte er.
„Ja, sie hat mir Alles gesagt, um Dir die Freiheit zu erringen. Sie hat mir erzählt, daß Ihr Euch liebt und daß Ihr Euch oft dort oben getroffen habt. Nun erzähl’ Du mir, wie es gewesen ist.“
Hansel’s Brust rang nach Athem. Er dachte nur an die Geliebte, die selbst die bösen Zungen der Leute nicht gescheut hatte, um ihm die Freiheit zu erringen.
„Hansel, nun erzähl’ mir Alles,“ drängte der Richter. „Sag’ die volle Wahrheit, das wird Dir am meisten nützen.“
„Jetzt kann ich sie sagen,“ entgegnete Hansel und sein Auge leuchtete hell. Er erzählte, wie er das Mädchen liebe und wie das Verlangen, sie zu sehen, ihn Nachts hinaufgetrieben habe auf den Oberburgstein. Dann schilderte er, wie der Unterburgsteiner eines Nachts auf ihn geschossen und wie die Kugel seinen Hut durchbohrt und seinen Kopf gestreift habe.
„Weißt Du denn, daß er es gethan hat?“ unterbrach ihn der Richter.
„Ja, ich weiß es. Ich hab’ ihn nicht gesehen, aber ich weiß, daß ich außer ihm keinen Feind hab’, der mir nach dem Leben trachten könnte. Und am folgenden Morgen in der Kirche hab’ ich die Gewißheit erlangt, daß er es gethan hat. Ich trat an seine Seite, und als er mich sah, wich das Blut aus seinem Gesichte, er zitterte und seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Er hatte mich für todt gehalten, weil ich bei dem Schuß niedergestürzt war, und nun mocht’ er glauben, ich sei vom Tode auferstanden. Ich hatte dem Unterburgsteiner eine solche Tücke nicht zugetraut, der Kopf schmerzte mich, es gährte in mir und da hab’ ich in dem Wirthshause, als ich Wein getrunken, wilde Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Wär’ er mir an dem Tage entgegengetreten, so hätt’ es ein Unglück gegeben!“
„Weshalb hast Du die Sache nicht zur Anzeige gebracht?“ unterbrach ihn der Richter.
„Ich konnt’ es nicht. Ich konnt’ ja nicht sagen, wo ich gewesen war,“ gab Hansel zur Antwort.
Und dann erzählte er weiter, wie er, um seinem Feinde auszuweichen, den beschwerlichen Weg durch die Schlucht gewählt habe. Er schilderte, wie die Lawine niedergefahren war und wie er sich dadurch gerettet, daß er sich hinter einen vorspringenden Felsen geworfen, und wie er sich mühsam, im Gesicht und an den Händen geschunden, an allen Gliedern fast gelähmt, zu dem Gehöft seines Vaters emporgearbeitet.
„Weiter weiß ich nichts,“ fügte er hinzu.
Seine Erzählung stimmte genau mit der des Mädchens überein.
„Und Du hast den Unterburgsteiner in der Nacht nicht gesehen?“ fragte der Richter.
„Nein.“
Der Richter war von der Unschuld Hansel’s völlig überzeugt, ihn selbst traf kein Vorwurf, aber es that ihm doch leid, daß der Bursch so lange Zeit in Haft gewesen war.
„Hansel, der Schein ist gegen Dich gewesen, aber es freut mich, daß Du ohne Schuld bist,“ sprach er, dem Verhafteten die Hand reichend. „Ich konnte nicht anders handeln, als ich gehandelt hab’ – auf mich wirf keinen Groll.“
„Nein, das thu’ ich nicht,“ entgegnete Hansel und hielt die ihm gereichte Hand fest. „Sie geben mich frei?“
„Gewiß. Du kannst gehen, wohin Du willst.“
Hansel zögerte noch.
„Ich dank’ Ihnen,“ sprach er. „Aber eine Bitte hab’ ich noch.“
„Sprich, Hansel.“
„Ich hätt’ noch ein Jahr und länger die Haft ertragen, um Moidl’s Ehr’ und Namen zu retten, die Leut’ werden über sie reden, aber, Herr Richter, ich schwör zu dem Heiland, ihre Ehre ist so rein, wie mein Gewissen! Ihnen werden die Leut’ es glauben, wenn Sie es sagen, mir nicht.“
„Ich werd’ es sagen, Hansel!“ rief der Richter. „Ich hab’ der Moidl versprochen, mit ihrem Vater zu sprechen, und ich werde es thun.“
„Den Sinn des Oberburgsteiners wenden Sie nicht,“ entgegnete Hansel. „Aber ich harre aus, und wenn ich darüber alt werden sollt’!“
„Nun geh, Hansel, Du bist frei,“ sprach der Richter. „Und wenn ich Dir helfen kann, dann komm’ zu mir, ich mein’ es gut mit Dir!“
Hansel erfaßte die Hand des Richters und führte sie an seine Lippen. Er eilte fort aus dem Zimmer und stürzte die Treppe hinab. Er verließ das Haus, in dem er so viele böse und trübe Stunden erlebt hatte. „Du bist frei – frei!“ rief es in ihm laut – mit dieser Empfindung stürzte er auf die Straße.
Die Messe war beendet, und die Leute kehrten aus der Kirche heim.
Der erste Gruß, der ihn empfing, war der erschreckte Ruf mehrerer Kinder:
„Der Hansel – der Hansel!“
Sie wichen vor ihm zurück. Es war, als ob ein wildes Thier aus einer Menagerie ausgebrochen wäre, vor dem Jeder flieht.
Er selbst floh. Wie ein Verfolgter eilte er die Straße entlang und stieg zu dem Gehöft seines Vaters empor. Aber die lange Haft hatte doch an seinen Kräften gezehrt, der Aufstieg war ihm früher nicht mehr gewesen als ein Spiel, jetzt versagte ihm
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_594.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)