Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die Pflanzen-Einwanderung in Norddeutschland.
Kannst du dir, mein freundlicher Leser, bei einem Spaziergang durch Wald und Feld und Flur in unserem weiten norddeutschen Flachlande wohl vorstellen, daß alle Bäume und Blumen, die dein Auge sieht, und selbst all die unscheinbaren Gräser und Kräuter, über die dein Fuß achtlos fortschreitet, eine Heimath besitzen, die in fremden Ländern und selbst in anderen Erdtheilen gelegen ist? Daß uns aus anderen Gebieten viele und zwar die schönsten Blumen, sowie die Pflanzen, deren Pflege dem Landmann auf Feldern und in Gärten obliegt, zugekommen sind, daß noch alljährlicher uns neue Pflanzenarten in Cultur genommen werden – dies ist dir schon lange bekannt, und du hast vielleicht im Stillen deinem eigenen Lande einen Vorwurf daraus gemacht, daß es nur wenig schöne Feld- und Waldblumen, allerlei unscheinbares Kraut aber und die schädlichen Unkräuter in Menge hervorzubringen im Stande sei, während alle schönen und nützlichen Gewächse uns von weit her geliefert werden müssen.
Aber diesen Vorwurf verdient unser Land nicht, denn alle die verschiedenen Pflanzenarten, die uns umgeben, sowohl die nützlichen wie die schädlichen, sie sind alle bei uns zu Gaste, sind im Laufe von Jahrzehnten, -hunderten und -tausenden zu uns gekommen als Fremdlinge und Eindringlinge, und sind somit, je nach dem Alter ihrer Einwanderung und der Art und Weise ihrer Niederlassung, nur mehr oder weniger einheimisch.
Doch wenn die sämmtlichen Kinder unserer Flora fremdgeboren sein sollen, so müßte es einmal eine Zeit gegeben haben, in der unser Vaterland keinerlei Vegetation beherbergte? Allerdings gab es eine solche Zeit – war doch unsere norddeutsche Tiefebene ein Theil des Bodens eines großen Nordmeeres, das seine Südufer an den Gebirgen Mittelfrankreichs und Mitteldeutschlands hatte, dessen Wassermassen erst an den niederrheinischen und Wesergebirgen, am Thüringer Wald, am Erzgebirge, an den Sudeten und den Karpathen eine Grenze fanden. So ist der ehemalige Meeresboden, als die Gewässer sich allmählich nach Norden zu in engere Grenzen zurückzogen, zu unserem norddeutschen Lande geworden! In dieses Gebiet hinein haben dann Menschen-, Thier- und Pflanzenwanderungen stattgefunden.
Da drängt sich vor Allem die Frage auf: Können denn die Pflanzen wandern? Allerdings gehen unseren Blumen Fortbewegungsorgane ab, sie haften im Gegentheil ja selbst vermittelst der Wurzeln im Boden, sie sind so recht eigentlich an die Scholle gebunden, sie wandern aber auch nicht activ – sie wandern passiv. Wenn wir vorläufig von der Thätigkeit des Menschen für die Wanderungen der Pflanzen absehen wollen, so können wir als wirksame Factoren derselben, die natürlich nicht nur für unser Gebiet, sondern auch für alle anderen gelten, die Strömungen der Luft und des Wassers, sowie die Thätigkeit der Thiere anführen.
Die Samen vieler Pflanzen können, frei von den Hüllen oder von ihnen eingeschlossen, durch die Winde über weite Strecken fortgeführt werden – vorausgesetzt, daß sie leicht genug sind, um vom Winde getragen zu werden, und daß sie nicht durch ihre Schwere allzu bald zum Boden gezogen werden. Es findet sich in der Natur eine große Mannigfaltigkeit von Einrichtungen an Früchten und Samen, um dieselben für den Transport durch die Winde geeignet zu machen. In häufigen Fällen sind Anhängsel vorhanden, die, indem sie eine größere Fläche darbieten, dem Winde eine wesentliche Einwirkung gestatten.
Wer hätte z. B. nicht schon gesehen, mit welcher Leichtigkeit die mit Fallschirmen ähnlichen Haarkronen versehenen Samen des gemeinen Löwenzahn oder der Butterblume jeder Luftbewegung folgen und über weite Strecken fortgeführt werden?
Auf solche Weise hat die canadische Dürrwurz, die jetzt im ganzen Deutschland an unbebauten Orten sehr gemein ist, seit Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts, wo sie zuerst in Frankreich beobachtet worden ist, ihr Verbreitungsgebiet durch verwehte Samen gewonnen, und erst in neuester Zeit haben wir von einer durch die Winde uns zugeführten, aus dem Osten stammenden Pflanze Notiz nehmen müssen, die ihr Gebiet alljährlich nach Westen zu ausdehnte – von der Wucherblume, einem gelbblühenden Kreuzkraut, das an vielen Orten als ein so häufiges Ackerunkraut auftrat, daß seine Ausrottung in öffentlichen Bekanntmachungen der Landbevölkerung von den Behörden dringend an's Herz gelegt worden ist.
In zweiter Art findet die Einwanderung von Pflanzen ans fremden Florengebieten durch die Strömungen des Wassers statt. Sind die Samen, beziehungsweise die Früchte leicht genug und durch ihre Umhüllung genügend gegen die schädliche Einwirkung des eindringenden Wassers geschützt, so ist nicht schwer einzusehen, daß sie, in Gewässer gefallen oder geweht, durch die Strömungen derselben an andere Orte geführt werden können, wo sie, wenn die Gelegenheit günstig ist, neuen Pflanzen Ursprung geben.
Es ist bekannt, daß die Cocospalmen durch vom Wasser fortgeführte Cocosnüsse ihre weite Ausbreitung erlangt haben – um so eher können daher kleine Samen den Wasserströmungen folgen. Der Pflanzenkundige trifft in den Flußthälern häufig Arten, von denen er mit vollster Bestimmtheit angeben kann, daß und aus welchen höher gelegenen Orten sie hierher geflößt worden sind.
Die überall in den deutschen Gewässern verbreitete kanadische Wasserpest (Elodea canadensis) giebt ein recht lehrreiches Beispiel von der Wirksamkeit des Wassers als Verbreitungsmittel neuer Pflanzen in einem Gebiete. Die Pflanze bringt in Europa keine Samen hervor, nichtsdestoweniger hat sie ihren Siegeslauf durch die deutschen Stromläufe in kürzester Zeit halten können, da selbst aus kleineren abgebrochenen Theilen, wie aus Stengelgliedern, die in dem Wasserlauf fortgeführt werden, neue zahlreiche Ansiedelungen entstehen.
Es wird noch Vielen in Erinnerung sein, daß besonders in England diese Pflanze die Wasserläufe derart füllte, daß Schifffahrt und Fischerei stellenweise völlig stockte. Auch bei Berlin war die Wasserpest im Jahre 1868 im Spandauer Canal so häufig, daß ihre Ausrottung, die wegen Behinderung der Schiffahrt nöthig geworden war, für eine Strecke von 11/2 Meile in drei Monaten mehr als 2500 Thaler erforderte.
Dieser Faktor der Pflanzeneinwanderung muß gerade für die Besamung unseres norddeutschen Tieflandes von höchster Wichtigkeit gewesen sein, denn einerseits hat das zurückweichende Meer die Strandflora – deren Ueberreste wir nach heute in den Salzpflanzen sehen – entstehen lassen, andererseits haben die unsere Ebene durchziehenden großen Flußläufe ihr Strombett mehrfach völlig verändert und somit den Pflanzen in verschiedene Gegenden die Einwanderung ermöglicht. Mündete doch einst die Weichsel durch das untere Elbthal in die Nordsee und später im unteren Oderthale! So finden wir noch heute viele Pflanzen. die ihre Hauptverbreitung in Südrußland und Ungarn haben, längs des Weges, den die Weichsel ehemals nahm. Andere Gruppen kamen sowohl in älterer wie in jüngerer Zeit mit der Oder und der Elbe. Die jetzigen Stromläufe führen noch alljährlich eine stattliche Anzahl von Flußthalpflanzen hernieder.
Die Einwanderung neuer Pflanzen wird ferner durch die Thiere vermittelt. Es haften Früchte oder Samen an der Körperbedeckung der Thiere, am Haarkleide der Vierfüßler und im Gefieder der Vögel, oder aber sie werden als Magen- und Kropfinhalt über weite Strecken hin fortgetragen und können somit – an günstigen Orten abgesetzt – neue Arten in einem Pflanzengebiete entstehen lassen.
In früheren Perioden, als das Klima unseres Landes mehrfach die vollkommensten Umwandlungen erlitt, somit Thierwanderungen veranlaßt wurden, muß dieser Faktor der Einwanderung von hoher Bedeutung gewesen sein, zudem viele Samen der Verbreitung durch Thiere so recht angepaßt erscheinen, sei es durch Ausbildung von Häkchen, Widerhaaren und anderen Haftorganen – man denke nur an Kletten und Pfaffenläuse – sei es durch Ausbildung einer weit sichtbaren wohlschmeckenden Hülle von Fruchtfleisch, welche die Vögel zum Verzehren und damit auch zur Verbreitung der Samen einlädt. Die Zugvögel dürften daher besonders als Pflanzenverbreiter eine Rolle spielen.
Nachdem nun die natürlichen Ursachen der Einwanderung und Verbreitung neuer Arten in einem fremden Florengebiete betrachtet sind, haben wir uns zu dem Einflusse des Menschen auf die Vegetation seines betreffenden Gebietes zu wenden. Der Mensch hat wesentlich zur Bereicherung des Pflanzenbestandes
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_566.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2024)