Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Die Zeit war ihnen wie ein Traum vergangen – Hansel drängte zur Heimkehr.
„Geh’ nicht die Schlucht hinab,“ bat Moidl.
„Ich komm’ auf dem Wege am schnellsten zu Thal,“ entgegnete Hansel. „Noch ist keine Gefahr vorhanden.“
„Wähl’ einen andern Weg.“
„Nein. Wie eine Ahnung, daß der Unterburgsteiner mir auflauert, liegt es auf mir,“ gab Hansel zur Antwort. „Es war auch in einer Nacht zum Sonntag, als seine Kugel mir durch den Hut hinfuhr. Was mich in der Schlucht bedrohen könnt’, wär’ eine Lawine, und diese Nacht fällt noch keine, der Schnee liegt zu fest.“
„Und wenn sie fiele?“ warf Moidl ein.
„Denk’ nicht daran,“ suchte Hansel sie zu beruhigen. „Ich kenne den Abstieg genau, und wenn ich stürz’, fall’ ich in den Schnee. Kaum eine halbe Stunde hab’ ich nöthig, dann bin ich in Sicherheit.“
„Der Wind heult so hohl.“
„Laß ihn heulen, Moidl. Er hört sich hier oben schlimmer an, als im Thal. In acht Tagen sehen wir uns wieder – erwart’ mich nur, ich find’ schon einen Weg.“
Noch einmal preßte Hansel die Geliebte an sich, dann eilte er fort. Es war ihm doch nicht ganz leicht um’s Herz, als er die Schlucht betrat. Deutlich vernahm er das Wasser unter dem Schnee, um so schneller eilte er, um nicht eine Minute zu verlieren.
Mit ängstlich pochendem Herzen trat das Mädchen in das Haus ihres Vaters und suchte ihre Kammer auf. Es war ihr, als ob der Wind immer hohler und unheimlicher klinge. Sie dachte nicht an Schlaf. Ohne Licht anzuzünden, öffnete sie das Fenster, wie ein schwüler Brodem wehte es ihr entgegen. Der Wind war unheimlich warm. Schwer lag es auf ihrem Herzen, ihre Brust vermochte kaum zu athmen. Sie faltete die Hände, sie wollte die heilige Jungfrau bitten, den Geliebten in Schutz zu nehmen, aber sie konnte nicht beten, die Angst verwirrte ihre Gedanken, die den Geliebten Schritt für Schritt begleiteten. Noch konnte er nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt haben.
Da vernahm sie plötzlich über sich ein donnerndes, rasselndes Rauschen. Mit dem Rufe: „Jesus Maria!“ stürzte sie zur Erde auf die Kniee.
Ein dumpfer, lauter Ton drang aus dem Thale zu ihr und brach sich im Echo an den Felswänden. Sie kannte diesen Ton nur zu genau – er kam von einer in der Schlucht niedergestürzten Lawine.
„Jesus Maria!“ wiederholten ihre Lippen noch einmal mit schwacher Kraft, während sie die Hände krampfhaft in einander geballt hatte. „Rette ihn, heilige Mutter Gottes, rette ihn!“ stöhnte sie und in ihrer Angst gelobte sie, das Liebste, was sie besaß – es fiel ihr nichts ein als ihre langen, braunen Flechten, um die sie so oft beneidet war – der heiligen Jungfrau als Opfer zu bringen.
Dann brach sie bewußtlos zusammen.
Auf den Bergstock sich stützend, eilte Hansel in mächtigen Sprüngen thalwärts. Das hohlklingende Heulen des Thauwindes war auch ihm unheimlich, er verhehlte sich die Gefahr nicht und beeilte sich, ihr zu entfliehen.
Da ertönte das donnernde Rauschen hoch über ihm in sein Ohr, er kannte es zu genau und obschon er erschreckt zusammenfuhr, so verließ ihn doch die Besinnung nicht, hinter einem Felsvorsprunge in der Schlucht warf er sich nieder, in der Todesverzweiflung sich fest an den Felsen anklammernd. Und die Lawine sauste mit Alles vernichtender Kraft nieder. Es war ihm, als ob er einen schweren Schlag auf den ganzen Körper erhielt und sein Kopf an dem Felsen zerschelle – dann schwand sein Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, war er kaum im Stande, sich zu rühren. All seine Glieder schienen gelähmt zu sein. Allmählich raffte er sich zusammen. Nase, Mund und Ohren waren ihm mit Schnee verstopft. Tiefaufathmend befreite er sich davon. Erst jetzt wurde er sich des Geschehenen bewußt. Zaghaft versuchte er die Glieder, es war keins gebrochen, so sehr sie auch schmerzten.
Langsam richtete er sich empor. Er konnte stehen und gehen. Wohl zitterte er heftig am ganzen Körper, aber langsam arbeitete er sich auf dem Steingeröll, durch welches das Bergwasser rauschte, abwärts. Und er erreichte die Stelle, wo er die Schlucht verlassen konnte und gerettet war. Erschöpft sank er nieder. Wie ein Wunder erschien ihm seine Rettung. Aber nicht an sich dachte er, sondern an die Geliebte und deren Angst. Wenn er ihr doch hätte zurufen können, daß er lebe!
Langsam stieg er zu Thal und dann zu dem Gehöft seines Vaters empor. Der Weg wurde ihm unsagbar schwer, er fühlte, daß er an den Händen und im Gesichte geschunden war, was kümmerte es ihn – er lebte!
Als er in seiner Kammer angelangt war, besaß er kaum noch so viel Kraft, die durchnäßten Kleider abzustreifen und sich in’s Bett zu werfen. Er schlief nicht. Sein Gesicht brannte, all seine Glieder schmerzten. In einem halb bewußtlosen Zustande lag er da, in seinem Ohre klang das donnernde Rauschen der niederstürzenden Lawine, seine Hände griffen krampfhaft nach dem Bettgestell, um sich zu halten. Endlich übermannte der Schlaf den Erschöpften. –
Der neue Tag war längst hereingebrochen, als Hansel’s Mutter in die Kammer ihres Sohnes trat, um ihn zu wecken. Der laute Aufschrei, der ihr entfuhr, als sie das blutige und entstellte Gesicht desselben erblickte, weckte den Schlafenden. Erschreckt fuhr Hansel empor.
„Hansel, was ist geschehen? Was hast Du begonnen?“ rief die Frau.
Der aus dem Schlafe Erweckte blickte erstaunt und noch schlaftrunken um sich.
„Was soll geschehen sein?“ fragte er noch vom Traume befangen.
„Dein Gesicht – Dein Gesicht!“ rief die Frau und trat händeringend an ihn heran.
Hansel versuchte sich empor zu richten, nur mit größter Anstrengung gelang es ihm. Die heftig schmerzenden Glieder riefen das Geschehene in seine Erinnerung zurück. Schaudernd zuckte er zusammen, aber er faßte sich schnell.
„Ich bin gestürzt,“ entgegnete er.
„Wo – wo?“ rief seine Mutter.
Hansel richtete sich langsam im Bette empor.
„Gestern Abend,“ gab er zur Antwort, sein Kopf war noch wüst, und er wußte kaum, was er sprach.
„Du hast Dich gestern Abend gleich nach uns zur Ruhe begeben,“ fuhr seine Mutter fort.
Hansel schwieg einen Augenblick. Er konnte die Wahrheit nicht gestehen, auch seiner Mutter nicht, das Geheimniß seiner Liebe gehörte ja nicht ihm allein.
„Mich wandelte die Lust an, noch zu Thal zu steigen,“ sprach er, ohne seine Mutter anzusehen. „Ich wußte, daß ich im ‚Elephanten‘ noch Freunde treffen würde; wir waren sehr lustig, wir tranken, und ich habe vielleicht zu viel getrunken. Es war spät, als ich heimkehrte – ich weiß nicht, wie es geschehen ist – ich muß den Weg verfehlt haben – da – da stürzt’ ich von einem Felsen hinab – wohl dreißig Fuß hoch – ich weiß es nicht.“
„Hansel, Du hast Dir geschadet!“ rief die Frau erschreckt.
„Nein, Mutter, ich bin ja hierher gegangen,“ entgegnete der Bursch beruhigend. „Meine Glieder sind gesund, ich werd’ mich etwas zerschunden haben, das ist Alles.“
„Du weißt nicht, wie Du ausschaust, Dein Gesicht ist entstellt!“ fuhr die Frau fort. „Vor keinem Menschen kannst Du Dich so zeigen. Ich hab’ Dir nie einen Vorwurf gemacht, aber meid’ den Wein, Hansel! Schon Mancher ist dadurch zu Grund’ gegangen!“
„Ich geh’ nicht zu Grund’,“ entgegnete der Bursche und erfaßte die Hand seiner Mutter. „Laß meiner Jugend ihr Recht, ich find’ mich immer wieder auf den rechten Weg.“
Und die Frau strich beruhigt und liebkosend über das Haar ihres Sohnes, der brav gewesen war von Jugend auf.
„Treib’ es nur nicht zu arg,“ sprach sie mahnend. „Ich werd’ Deinen Vater vorbereiten, daß er nicht erschrickt, wenn Du zu ihm trittst.“
Sie verließ die Kammer, und Hansel sprang aus dem Bette. Als er vor den kleinen Spiegel hintrat, fuhr er selbst erschreckt zurück. Sein Gesicht war mit Blut überdeckt und geschwollen, aber seine Glieder waren gesund, und das gab ihm schnell seinen frischen Muth zurück.
Er wusch sich, mochten die Verletzungen auch schmerzen. Dann trat er an’s Fenster und sah zum Oberburgstein hinüber.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_562.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2024)