Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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No. 35. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ueber Klippen.
Der Winter hielt an. Der Schnee hatte sich gefestigt und neuer war nicht gefallen. Wochenlang stieg Hansel jeden Sonnabend Abends zum Oberburgstein empor und immer sicherer fühlte er sich, wenn er auch die größte Vorsicht nicht vergaß.
David hatte seinen Entschluß nicht geändert, derselbe beschäftigte ihn unausgesetzt. Manche Nacht lauerte er hinter einem Felsen versteckt vergebens auf den Verhaßten. Er durchsuchte den ganzen Bergesabhang nach einer Spur seines Fußes in dem Schnee. Er fand keine, und doch war er fest überzeugt, daß er mit der Moidl noch zusammen kam.
Unter dem Felsen, wo sie sich trafen, machte er Zeichen, und durch sie gewann seine Vermuthung Gewißheit. Es war ihm ein Räthsel, wie der Welsche dorthin gelangte. Da machte er die Wahrnehmung, daß das von ihm unter dem Felsen gemachte Zeichen die ganze Woche lang unberührt blieb und regelmäßig am Sonntag Morgen vernichtet war. In der Nacht zum Sonntage trafen sie sich also.
Auf’s Neue wandte er einen Tag daran, um den Weg, den Hansel einschlug, aufzufinden. Er suchte lange vergebens. Ohne Hoffnung schlug er einen Weg ein, der unterhalb seiner Besitzung sich am Bergabhange hinzog und von Holzknechten getreten war, welche in der Nähe Holz fällten. Da fiel ihm auf, daß eine Spur im Schnee weiter nach der Schlucht zu führte. Was konnten die Holzknechte dort gesucht haben? Er verfolgte sie, er fand einen Weg, der in tiefem Schnee gerade in der Schlucht emporführte. Jubelnd zuckte er zusammen, denn endlich hatte er die Spur des Welschen gefunden.
An diesen Weg hatte er freilich nicht gedacht, weil er ihn für unmöglich gehalten, dem verwegenen Burschen schien jedoch nichts zu schwer zu sein. Er versuchte, eine Strecke auf ihm emporzusteigen, mußte jedoch bald davon abstehen, denn seine unbeholfene Gestalt versank in dem Schnee und seinen Füßen fehlte ein Stützpunkt.
Nun konnte der Verhaßte ihm nicht mehr entgehen, er kannte seinen Weg und wußte, in welcher Nacht er ihn einschlug. Und kein Ort konnte für sein düsteres Vorhaben günstiger sein, als diese Schlucht. Wenn seine Kugel den Welschen niedergestreckt und er den Todten mit Schnee bedeckt hatte, wer konnte den Vermißten hier suchen und finden? Er lag dort, bis im Frühjahre das herabstürzende Wasser ihn mit in das Thal riß oder eine Lawine ihn noch tiefer begrub.
Der Sonnabend Abend, auf den Hansel sich die ganze Woche hindurch gefreut hatte, war gekommen. Der Wind hatte schon am Morgen umgesetzt und wehte aus Süden. Die Luft war lau und der Himmel war bewölkt. Der Umschlag des Wetters hatte Hansel besorgt gemacht, ihn beruhigte jedoch die Wahrnehmung, daß aus dem Thale immer noch kühler Nordwind wehte, der die Festigkeit des Schnees erhielt. Er konnte den Aufstieg durch die Schlucht immer noch wagen.
Zu der gewohnten Stunde am Abende brach er auf. Wohl bemerkte er, daß der Schnee unter seinen Tritten sich schon zusammenballte, er achtete wenig darauf, denn er mußte die Geliebte sehen. Der Aufstieg in der Schlucht wurde ihm schwerer, als je zuvor, der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er hätte die Joppe von sich werfen mögen, so heiß war ihm. War die Luft wirklich so lau und schwül, oder täuschte er sich? Einige Male war es ihm, als ob er unter dem Schnee zwischen dem Gerölle ein Rieseln wie von herabfließendem Wasser vernahm – es konnte nicht sein! Er nahm sich auch nicht Zeit zum Horchen, schneller eilte er vorwärts.
Glücklich langte er oben an. Wie an einem lauen Frühlingsabende erschien ihm hier die Luft. In wenigen Minuten war er bei der Geliebten, die ihn beteits erwartete.
„Hansel, bist Du durch die Schlucht aufgestiegen?“ fragte Moidl.
„Gewiß,“ gab Hansel heiter zur Antwort.
„Ich bin in Angst gewesen, das Wetter ist umgeschlagen, den ganzen Tag hat der Thauwind geweht.“
„Er hat noch sehr wenig gewirkt. Du siehst, ich bin ohne Unfall hierher gelangt. Noch läuft’s keine Gefahr, der Schnee steht noch.“
„Oben am Berge nicht,“ fuhr Moidl fort. „Mein Vater war gestern oben im Walde, da hat der Thauwind dort schon geherrscht, und er sagte, daß er heute im Thal sein werde. Er versteht sich auf’s Wetter, wie Wenige. Er fügte auch hinzu, daß der Schnee diesmal sehr schnell aufgehen werde, denn die Wärme komme von oben, und die Erde habe noch keine Kälte gehabt, als er gefallen sei, und der spätere Frost sei nicht durchgedrungen.“
„Ich bin ja hier, nun mag der Schnee aufgehen, hinab komm’ ich schon wieder,“ warf Hansel heiter ein.
Er hatte der Geliebten, die er seit acht langen Tagen nicht gesehen, so viel zu sagen, und auch Moidl dachte an den Schnee und den Thauwind nicht länger. Sie saßen gegen den Wind geschützt und vernahmen kaum, wie er heulend durch das Thal fuhr und pfeifend sich an den Felskanten brach. Dazwischen fielen einzelne Regenschauer.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_561.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2024)