Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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ernste Befürchtung auf vor einer weiteren Verbreitung und vor einem Anwachsen der Seuche zu einer wirklichen Landesepidemie. Diese Befürchtungen sind leider nur zu sehr und zu bald eingetroffen.
Jetzt noch die Entstehung der Seuche näher zu untersuchen, ob sie spontan in Damiette entstanden, was immerhin möglich sein kann, oder ob sie, was wahrscheinlicher ist, durch englische Schiffe von Bombay, wo sie bekanntlich in noch höherem Grade als in Syrien und Mesopotamien endemisch ist, eingeschleppt wurde – das scheint, wenigstens hier für uns, eine müßige Frage. Die Aegypter selbst sind viel zu sehr Partei und möchten zu aller sonstigen Noth, die, nach ihrer Ansicht, die englische Occupation über sie gebracht hat, auch noch gar zu gern die Cholera auf Rechnung der Engländer setzen.
Die Nationalpartei, „Aegypten für die Aegypter!“, die mit dem Sturz Arabi Paschas keineswegs vernichtet ist, sondern (man täusche sich nicht!) unter der Asche fortglimmt und, wenn auch nicht bald, so doch jedenfalls dermaleinst wieder in Flammen aufschlagen wird, diese Partei bezeichnet schon jetzt offen und geheim die Engländer als die Urheber des neuen Unheils und vielleicht nicht mit Unrecht, denn in Europa und sogar in England selbst sind ja schon mehrfach Stimmen laut geworden, die ähnliche Anklagen wegen der aus Ostindien angekommenen und nicht controllirten englischen Dampfer erhoben, – die Grundgesetze der Gesundheitspflege sollen die Engländer verletzt haben, nur um dem „Geschäft“, das allerdings im vorliegenden Falle den Welthandel bedeutet, nicht zu schaden.
Als nun von Damiette aus sich die Epidemie weiter und weiter verbreitete, aber doch immer noch im nördlichen Delta blieb, also zu Anfang des Juli, da hätte man schon in Kairo die nöthigen und zwar die umfassendsten vorbeugenden Maßregeln treffen müssen, um sie, wie einen heranrückenden Feind, wohlgerüstet zu empfangen. Da war es vor Allem angezeigt, die Nilufer oberhalb Kairo und bis nach Minieh und Siut hinauf streng zu überwachen, um den Strom, die einzige Wasserquelle in ganz Aegypten, von allen Cadavern und von dem tausendfachen Unrath frei zu halten, der nach Landessitte seit Menschengedenken hineingeworfen wird, und eine gleiche Fürsorge und Aussicht für die Straßen der Städte und Dörfer anzuordnen. Das hat man aber nicht gethan, im Gegentheil, es ist nach durchaus glaubwürdigen Augenzeugen erwiesen, daß man sich in Mittelägypten an vielen Orten der Befolgung aller jener Vorschriften hartnäckig entzog und sich über das Erscheinen und Umsichgreifen der Cholera geradezu freute, vollends als es hieß, daß sie auch unter den englischen Truppen ausgebrochen sei, weil man hoffte, dadurch am schnellsten von der verhaßten Occupation befreit zu werden. Der Polizeipräfect von Kairo, ein fanatischer Feind der Engländer, mag ähnlich gefühlt und, wenll er geschichtskundig ist, vielleicht gar an Rostopschin gedacht haben, der Moskau lieber den Flammen preisgeben, als es in die Hände Napoleon’s fallen lassen wollte. Hier jedenfalls ein verdammenswerther Patriotismus.
Für Bulak ferner, die eigentliche Hafenstadt von Kairo, geschah anfangs gar nichts, und doch lagen dort aus früheren Pest- und Cholerajahren die traurigsten Erfahrungen vor. Jedes mal, wenn eine Epidemie die Hauptstadt heimgesucht, war sie in Bulak zuerst ausgebrochen, und vereinzelte Cholerafälle mit tödtlichem Ausgang kommen dort alljährlich in den letzten zwanzig Jahren vor. Das Häusergewirr der dortigen engen, dichtbevölkerten und dazu grenzenlos schmutzigen Gassen hat von jeher alle Fremden und Touristen als Reisecuriosum angezogen, weil man dort ein Stück Orient finden und beobachten kann, gegen das die verrufensten und schlimmsten Quartiere von Kairo und Constantinopel zurücktreten müssen.
In Bulak brach denn auch diesmal die Seuche, soweit sie die Hauptstadt selbst betrifft, wieder zuerst aus, und es ist jetzt erwiesen, daß sie dort schon mehrere hundert Menschen hingerafft hatte, als man noch nicht die geringsten Maßregeln getroffen hatte; denn die ersten amtlichen Bekanntmachungen, die sich direct auf die Bevölkerung von Kairo beziehen, datiren vom 15. und 18. Juli. Und jetzt, wo wir dies schreiben (in den letzten Julitagen), tritt erst die eigentliche Sanitätscommission zusammen, die schon so lange auf dem Papier stand, und auch das nur, weil man endlich einige englische Persönlichkeiten als Mitglieder darin hat aufnehmen müssen, gegen die man sich bis dahin hartnäckig gesträubt hatte.
Noch weiß man nichts Näheres von der Wirksamkeit und den Erfolgen dieser Commission, die auch leider zur Bekämpfung der Seuche machtlos bleiben wird. Man kann ein ganzes Volk in seinen Sitten und Gebräuchen, in seiner ganzen Denk- und Anschauungsweise nicht im Handumdrehen ummodeln, und bei dieser Gelegenheit tritt der civilisatorische Fortschritt, mit welchem der Ex-Khedive sein Land zu beglücken vorgab und der so pomphaft in alle Winde hinausposaunt wurde, als klägliches, wesenloses Scheinding so recht zu Tage. Unten hätte er mit seinen Reformen anfangen müssen, das heißt dem eigentlichen Volke ein besseres Heim, eine menschenwürdigere Existenz nach Gesetz und nicht nach Willkür schaffen und dadurch den Sinn wecken für Ordnung, Sauberkeit, Regel und Maß - prosaische Dinge immerhin, aber im Staatshaushalt von hoher Bedeutung – dann hätte man schon früher während seiner Regentschaft und vollends jetzt bei dieser neuen entsetzlichen Calamität den Segen davon verspürt. Doch das sind utopische Bilder, die vor der ernsten, erschütternden Wirklichkeit in Dunst und Nebel zerfließen. Dieser jetzt mannhaft die Stirn zu bieten, um zu retten, was noch zu retten ist, bleibt die Aufgabet der genannten Commission und überhaupt der Regierung. Der jetzige Khedive, der junge Tewsik, tritt dabei gottlob nicht in die Fußstapfen seines Vaters. Er bleibt doch wenigstens in seiner Residenz, durchfährt täglich die Straßen und hat auch bereits die Cholerakranken in den verschiedenen Hospitälern besucht; nach europäischen Begriffen ganz gewöhnliche Dinge und im Grunde nichts als die Pflicht des Landesherrn, nach orientalischen aber wahrhafte Heldenthaten.
Den weiteren Verlauf der Epidemie vorherzusagen, ist natürlich unmöglich; man hat dafür als Anhalt nur die Erfahrungen früherer Cholerajahre, nach welchen sie mit dem fallenden Nil, also gegen Ende September, ebenso rapid abnahm, wie sie mit dem steigenden gewachsen war. Eine neue Erfahrung tritt diesmal hinzu, nämlich die von der fast vollständigen Nutzlosigkeit nicht der eigentlichen Quarantaine, sondern der Absperrung der bereits heimgesuchten Ortschaften. Die erstere mag, trotz ihrer Gegner, namentlich für Seehäfen, also im vorliegenden Falle für Triest, Marseille und hauptsächlich für die verschiedenen italienischen Häfen, von Erfolg sein, die zweite, die Absperrung, ist, wie gesagt, nicht allein zwecklos, sondern unter Umständen, wie diesmal in Damiette, Mansurah und Damanhur, erst recht gefährlich. Die Sperrgürtel wurden, trotz der scharfen militärischen Bewachung und des unmenschlichen Befehls, jeden Herankommenden niederzuschießen, fast überall durchbrochen und die Flüchtigen trugen den Ansteckungsstoff weiter, was in den südlicher gelegenen Städten Tantah, Zagasihk und Benha amtlich constatirt wurde, wie es gleichfalls officiell erwiesen ist, daß in Damiette Hunderte von Nichterkrankten aus Mangel an Nahrungsmitteln umgekommen sind, weil die Hineinschaffung derselben in die Stadt gleichfalls nicht gestattet wurde. Ein neuer Beweis von der Kopflosigkeit der ägyptischen Behörden, die sich nicht wenig auf die Idee einer „Localisirung der Seuche“ einbildeten.
Mehr als sonst hat sich übrigens die Cholera in Aegypten diesmal launisch und unberechenbar gezeigt; so sind namentlich in Kairo einzelne arabische Viertel bis jetzt ganz verschont geblieben, wo unter gleichen Vorbedingungen die nächstgelegenen schwer heimgesucht wurden. Im sogenannten Frankenviertel, den unter dem Ex-Khedive Ismall angelegten neuen Stadttheilen mit breiten Straßen und vielen Gärten, sind bis Ende Juli nur wenig einzelne Fälle vorgekommen, aber dafür ausnahmsweise in dem dicht bei Kairo, hart am Wüstenrande liegenden Gizeh. Sonst bot die Wüste immer das sicherste Asyl gegen die Epidemie, und die Wüstenbewohner selbst, die Beduinen, kennen weder Pest noch Cholera. Ein Gleiches gilt von der nur wenige Meilen südwestlich von Kairo liegenden herrlichen Oase Fajuhm, die stets von den Epidemien verschont geblieben ist und wohin auch diesmal wieder schon im Juni viele Hundert arabische und europäische Familien übersiedelten, die nun vielfach unter Zelten campiren und allen Comfort entbehren, dafür aber ihr Leben in Sicherheit gebracht haben.
Die große Masse des eigentlichen arabischen Volkes leidet aber unendlich schwer unter dieser neuen Zuchtruthe des unerbittlichen Schicksals, und es gehört der durch vielhundertjährige Knechtung sclavisch gewordene Charakter desselben und nicht minder die Furcht vor den englischen Truppen dazu, um es nicht trotz alledem zu einem Aufstand zu treiben, der in seinen Folgen nicht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_559.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)