Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Erregung, wo das Kind schon zu erhöhter Reizbarkeit neigt, und behandle es mit zarter Rücksichtnahme auf seine seelischen Regungen. Viel mehr, als durch viele Schularbeiten, wird ein Kind durch häusliche Lectüre in seiner Phantasie erregt. Viel mehr, als die, wenn auch angestrengte, so doch geregelte Beschäftigung in der Schule schadet manchem Kinde der Mangel an Einsicht seiner Umgebung, welche an sich ganz harmlose momentane „Stimmungen“ gestattet, die sich durch häufige Wiederkehr zu bleibenden Abnormitäten umgestalten.
Die Schule hat in erster Linie dem Kinde einen angemessenen Grad von Bildung beizubringen und kann nur im Anschluß hieran gewisse Grundsätze der Erziehung pflegen.
Die schöne Aufgabe, es seiner Natur nach zu erziehen, fällt dem Elternhause zu. Nur hier wird man mit feinem Gefühl im Stande sein, alles Rohe, Verletzende von dem Kinde fern zu halten, es an freudigen Gehorsam, an Ordnung und Sauberkeit, an Beherrschung des Willens zu gewöhnen, im Spiel und in freier Natur ihm Erholung zu verschaffen und seinen edlen Bestrebungen, seinem Thatentriebe und seinen Talenten Gelegenheit zur Entfaltung zu geben.
Ganz besonders verdienen größere Kinder, zumal Mädchen, zur Zeit ihrer Entwicklung sorgsamer Körperpflege und größter Schonung, da unverstandene Empfindungen ihr seelisches Gleichgewicht stören und ihre in diesen Jahren starke Reizbarkeit leicht steigern. Freilich ist es hierzu nöthig, daß die Schule die freie Zeit nicht durch ein Uebermaß häuslicher Aufgaben verkümmert, sondern diese auf das geringste Maß reducirt, daß sie Körperstrafen möglichst einschränkt und in der Wahl von Strafen die körperlich bedenklichen und die entehrenden vermeidet, überhaupt nur Charakerstärke, nur Pflichtgefühl, aber nie Furcht oder krankhaften Ehrgeiz erweckt. Dann werden gewiß die Anlagen zu psychischen Krankheiten der Kinder im Schulalter auf eine sehr geringe Zahl sinken und jene traurigen Selbstmorde älterer Schulkinder wegfallen, die zuweilen, besonders in Großstädten, als Ausdruck schwerer, krankhafter Zustände des Nervensystems sich ereignen. – –
Die Verantwortlichkeit der Schule für manche Krankheiten der Athmungsorgane ist nicht abzuleugnen. Die oft von Staub verunreinigte Luft in den zuweilen überheizten Schulclassen, das oberflächliche Athmen beim hockigen Sitzen, die unnatürliche Anstrengung, welche den Kindern in den Elementarclassen dadurch bereitet wird, daß man sie statt des deutlichen Articulirens schreien und an die Stelle eines auf regelrechter Stimmbildung begründeten Gesanges ein „Brüllen“ oder „Krähen im Chorus“ treten läßt - alles das und noch manches Andere öffnet den Krankheiten der Respirationsorgane Thür und Thor. Manche Kinder, die sich bis zum Besuche der Schule einer klaren Stimme und freien Athmung erfreuten, werden von da an den Husten, die Heiserkeit nicht recht los, oder ziehen sich wenigstens beides sehr oft zu. Der chronisch geröthete Hals wird zu einer häufigen Erscheinung; er wird, in Verbindung mit „den angeschwollenen Mandeln“, zu einem Schrecken der Eltern.
So wenig man den Einfluß der Schule auf diese Leiden verkennen kann, so wird man doch nur zu oft gewahr, wie die Kinder noch warm und erregt von dem Unterricht, mit dem letzten Ton der Schulglocke dem Gebäude entströmend, in einer weder der Jahreszeit noch dem Wetter entsprechenden Kleidung heim gehen, die einen dabei laufend, die andern trotz ungünstigen Windes unaufhörlich sprechend und schreiend. Die frische, sich austobende Lebenslust bildet manchmal einen grellen Contrast zu der übertriebenen, ängstlichen Vorsicht, unter der die Kinder bis dahin vor jedem Lüftchen behütet worden waren.
Auch zu Hause, in der Wohnung und noch mehr im Garten, sind übrigens der Gelegenheitsursachen nicht wenige, um eine katarrhalische Erkrankung in die Länge zu ziehen. Es ist in dieser Hinsicht zu bedauern, daß nicht in jeder Familie mit der nöthigen Vorsicht in Beobachtung der Windrichtung, der Trockenheit der Luft, der mehr praktischen als eleganten Kleidung und der Ventilation in den Kinderstuben, eine Abhärtung durch Abreibungen von Hals, Brust und Rücken, sowie durch frühzeitiges, kühles Gurgeln mit leicht desinficirenden Mundwässern einhergeht. Wenn diese sehr empfehlenswerthe Prophylaxe mehr eingebürgert wäre, würden gewiß die Dispositionen zu den in der Schulzeit auftretenden Katarrhen sich ermäßigen, die Widerstandskraft der Schleimhäute des Rachens, des Kehlkopfes, der Luftröhren sich erhöhen und das Einnisten von Krankheitskeimen in die Buchten, Grübchen und Falten dieser Organe verhütet werden.
Man würde sich einer nicht minderen Täuschung hingeben, wenn man für das mit Beginn des Schulbesuchs sichtbare Auftreten „allgemeiner Ernährungsstörungen“, vor Allem der Blutarmuth, die vorwiegende Ursache anderswo suchen wollte, als in den mit einem Schlage so wesentlich veränderten Lebensbedingungen des Kindes. Die frische Farbe schwindet durch den Aufenthalt in der sich mit Kohlensäure und organischen Stoffen erfüllenden Schulluft, und die oft recht hoch bemessenen Schulaufgaben bannen das Kind an das Zimmer, während draußen der helle Sonnenschein so verlockend zum Tummeln und zur Erholung winkt.
Aber die Gerechtigkeit gebietet, ohne Vorurtheil danach zu fragen: „Werden allgemeine Störungen der Ernährung lediglich durch die Schule hervorgerufen, lediglich durch sie in der Weise verschlimmert, daß man sie darum als ‚Schulkrankheiten‘ bezeichnen müßte?“ Und diese Frage ist zu verneinen. Blutarmuth, Skrophulose, Schwindsucht. Muskelschwäche und andere Anomalien gehören, abgesehen davon, daß sie häufig ererbt sind, zu denjenigen Leiden, die sich oft in den ersten Lebensjahren durch ungünstige hygienische Verhältnisse der Wohnung und der Kost, durch Stubenhocken mancher Kinder und durch die ängstliche Luftscheu mancher Eltern entwickeln.
Auch sind viele höchst unzweckmäßig eingerichtete Spielschulen, sogenannte Kindergärten, die, wie lucus a non lucendo[WS 1], oft ganz ohne Gärten, nur auf einige, natürlich dafür ganz ungeeignete Miethzimmer angewiesen sind, und manche überfüllte Kinderbewahranstalten sicher die Quellen solcher Leiden.
Ich bin überzeugt, daß, wenn man auf die Hygiene solcher Anstalten mehr Gewicht legte und sie besser überwachte, wenn man ferner während des Spielalters auf die Gesundheitspflege der Kinder mehr achtete, gewiß nicht so viele zarte, blasse, schlaffe Kinder der Schule zugeführt werden würden.
Wie wenig gerade die Schule allein, die man ja gern als Herd für die Verbreitung ansteckender Krankheiten bezeichnet, im Stande ist, die aus dem täglichen Zusammenströmen vieler Kinder aus den verschiedensten Familien sich ergebenden Nachtheile zu verhüten, ergiebt sich bei den Infektionskrankheiten ganz von selbst. Es ist ja leider wahr, aber auch ebenso erklärlich, daß sehr oft die Anfangsstadien einer ansteckenden Krankheit vom Lehrer selbst übersehen oder nicht beachtet werden; ist es doch selbst dem ärztlich geübten Blick zuweilen schwer, ein bedeutungsloses Unwohlsein vom Beginn übertragbarer Leiden zu unterscheiden, ganz abgesehen davon, daß das Kind, ohne selbst erkrankt zu sein oder sichtliche Merkmale von Krankheit zu haben, Zwischenträger und Verbreiter von Ansteckungsstoffen sein kann. Diese oft beobachtete Thatsache ist zwar neuerdings bestritten worden; man wird aber gut thun, an derselben nicht zu rütteln.
Muß auch die Schule als ein bedeutungsvolles Zwischenglied in der Kette der Uebertragungen von flüchtigen oder organisirten Krankheitserregern betrachtet werden, so ist doch, wie dies bereits von den Gesundheitsbehörden richtig erkannt und festgestellt worden ist, in vielen Fällen die Familie verantwortlich zu machen. Viel zu sehr dominirt hier der Egoismus und die Gleichgültigkeit gegen das Wohl Anderer. Aus einem Hause, in welchem Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, Pocken, Typhus herrschen – von Ziegenpeter, ansteckenden Hautausschlägen und Augenentzündungen ganz zu geschweigen – werden gesunde oder doch noch nicht deutlich erkrankte Geschwister, die mit den kranken in Berührung waren, zur Schule geschickt, die Erkrankung etwa noch nicht schulpflichtiger Kinder wird verheimlicht, und den Reconvalescenten zu früh der Schulbesuch wieder gestattet. Die Privatbesuche zwischen inficirten und gesunden Häusern, die Betheiligung an Privatstunden – überhaupt die ungenügende Abschließung in allen durch das sociale Leben sich ergebenden Formen - und die Sorglosigkeit oder Unkenntniß bezüglich der Verhütung ansteckender Krankheiten thun das Uebrige.
Hier läge eine echt humane, selbstlose Aufgabe der häuslichen Gesundheitspflege – aber wie Wenige sind sich derselben bewußt! Und „läßt man es gehen, wie’s Gott gefällt“, verbreiten sich dann die Epidemien von Haus zu Haus, lichten sich ganze Schulclassen, ja muß eine Schule zeitweise ganz geschlossen werden, dann denkt man selten daran, daß, wenn Jeder bei Zeiten seine
Anmerkungen (Wikisource)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_556.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)