Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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dieser ungleichen Blutvertheilung, die man nicht mit Unrecht als eine bei Schulkindern häufige Krankheit bezeichnen kann, vorbeugen. Die Familie aber hat die Pflicht, solche Kinder, welche an Blutüberfüllung in der Schädelhöhle leiden, durch Erholung des Gehirns, durch Kühlhalten des Kopfes, durch Regelung der Verdauung, durch ableitende Douchen und Körperbewegung im Freien gesund zu erhalten, blutarmen Kindern aber vielen Schlaf, Milchkost und kräftigende, blutbildende Kost zu Theil werden zu lassen.
Von manchen Seiten wird das Auftreten von Krampfzuständen, insbesondere vom sogenannten „kleinen Veitstanz“, der Schule zugeschrieben. Das noch ebenso räthselhafte, wie unheimliche Zunehmen mancher Nervenkrankheiten während der Schuljahre, das zuweilen gruppenweise Auftreten derselben unter Schülern, und häufiger Schülerinnen einer Classe fordert wohl zu Nachdenken auf.
Geht man aber den einzelnen Fällen auf den Grund, und sucht man besonders die Vorgeschichte der zuerst erkrankten Kinder kennen zu lernen, so zeigt sich meist, daß diese schon in frühester Jugend an Krämpfen litten, daß ihre Schädelbildung abnorm angelegt war, daß die Verknöcherung des Schädels nicht regelmäßig erfolgte, und nicht selten gelingt es, eine erbliche Anlage von väterlicher oder mütterlicher Seite aufzuweisen. Oft läßt sich eine solche durch mehrere Generationen aufwärts an Familienmitgliedern constatiren.
Die Keime der Krankheit liegen also meist in der Körperbeschaffenheit des Individuums. Auch muß man bedenken, daß außer dieser angeborenen Anlage zu Nervenleiden eine früh erworbene vorhanden sein kann. Manche Krankheiten der ersten Lebensjahre hinterlassen schwere, nie ganz zu vertilgende Spuren in den edelsten Centralorganen des Nervensystems, und es bedarf manchmal nur eines äußeren Anlasses, um die schlummernden krankhaften Zustände wieder wachzurufen.
Dieser Anstoß, überhaupt die Gelegenheitsursache zu Erregung des Nervensystems wird freilich, wie man zugeben muß, bei einmal dazu disponirten Kindern in dem ganzen Schulleben mit seiner Disciplin, seinen Anforderungen und seinen Strafen begünstigt. Das stundenlange Zusammensein mit vielen Kindern in demselben Raume, die Anspannung der Aufmerksamkeit, die unvollkommene Respiration kommen dazu und der unvermeidliche Anblick ähnlicher plötzlicher Erkrankung anderer Kinder ist bisweilen, vielleicht in Folge eines noch unaufgeklärten Nachahmungstriebes, schuld, wenn bei mehreren Kindern nach einander ähnliche Leiden auftreten. Wie große Volkskrankheiten im Mittelalter sich auf diese Weise verbreiteten, so verbreiten sich auch derartige Nervenleiden (Veitstanz, Epilepsie, Starrsucht), indem sie einen mächtigen Eindruck auf die Umgebung machen, zuweilen in bestimmten Schulen.
Mindestens ebenso oft aber mögen an dem Auftreten von Nervenkrankheiten während der Schuljahre psychische Affecte in der häuslichen Erziehung schuld sein. Unverständige Strenge, Erregung von Furcht, Angst vor ungenügender Erfüllung der Pflichten, aufregende Vergnügungen, ungleichmäßige, launische Behandlung geben sicher häufig den ersten Anlaß.
„Es ist nicht recht,“ betont eine Autorität, „in jedem Falle zunächst die Schule für die nervöse Empfindlichkeit und geistige Schlaffheit der Schuljugend verantwortlich zu machen.“
Und ich möchte hinzufügen:
„Es ist Pflicht, den Ursachen in jedem einzelnen Falle in und außerhalb der Schule ohne Voreingenommenheit und Uebertreibung nachzugehen, um solche Kinder vor schwereren Schädigungen zu schützen.“
Solche Patienten können eben nicht schablonenmäßig genau wie gesunde Schulkinder behandelt werden, und es ist Sache des Arztes, die Disposition möglichst frühzeitig zu beseitigen, da die Nerven, je länger, desto hartnäckiger eine Gewöhnung an krankhafte Functionirung sich aneignen und schließlich der Wille ohne Einfluß bleibt.
Bekanntlich machte sich vor mehreren Jahren auch bezüglich der Geistesstörungen, besonders durch Hasse, die Behauptung geltend, daß die Schüler höherer Lehranstalten ein starkes Contingent zu der Zahl späterer Geisteskranken stellten. In der Ueberbürdung des Gehirns sollten reiche Quellen zu späteren psychischen Störungen entspringen.
Eine officielle, speciell darauf gerichtete Erörterung hat nun ergeben, daß diese Annahme sich nicht bestätigt und daß die Fälle von geistiger Erkrankung in Folge von Ueberanstrengung in der Schule jedenfalls viel seltener sind, als in dem ersteu Ansturm behauptet worden war.
Man muß in der Beurtheilung jedes einzelnen solchen Falles besonders vorsichtig sein und auch hier etwaige Erblichkeit oder anderweitige Entstehungsursachen ausschließen, ehe man die Schule dafür verantwortlich macht. Damit ist aber nicht gesagt, daß unsere heutige Organisation der höheren Schulen und die in denselben an die Schüler gestellten Anforderungen gleichgültig für Kinder sein müßten, welche irgendwie zu geistigen Störungen geneigt oder der geistigen Anstrengung und Anspannung nicht genug gewachsen sind.
Im Gegentheil wird auf solche jugendliche Individuen, deren ungenügende geistige Befähigung, Energie und Widerstandskraft nicht immer berücksichtigt werden kann, die Schule leicht ungünstig einwirken. Andererseits sind die Beispiele, daß die Schule auf ganz normale Kinder in gleicher Weise schädigend einwirke, gewiß zu den Seltenheiten zu rechnen, ein Umstand, der, wenn man die notorische Ueberlastung in manchen höheren Schulen in Betracht zieht, nur beweist, was ein gesundes Kinderhirn ohne Schädigung aushalten kann.
Nachdem Vierordt, Kußmaul, Wundt und Andere bereits der Entwickelung der Seelenthätigkeit des Kindes nachgegangen sind, hat neuerdings Preyer in seinem Werke „Die Seele des Kindes“ dies bisher noch dunkle Gebiet auf dem Wege der Beobachtung zu erforschen gesucht.
Indem er an seinem eigenen Kinde während der drei ersten Lebensjahre desselben regelmäßig dreimal täglich ganz methodische Beobachtungen angestellt hat und über Alles, was er erforschte oder wahrnahm, sofort Notizen machte, hat er uns in zusammenhängender Weise das Erwachen und die Entwicklung der Seelenthätigkeit geschildert. Die classische Arbeit, die jeder Denkende lesen sollte, zeigt uns deutlich, wie und wann sich aus den ersten Sinneswahrnehmungen der frühesten Organgefühle und Regungen von Lust und Unlust nach und nach Urtheil, Wille und Bewegung herausbilden.
Wir sehen, wie unmerklich der Uebergang von angeborenen, willenlosen und reflectorischen Bewegungen zu den bewußten, gewollten ist, sehen, wie der Wille die Brücke zum Intellect bildet, und belauschen die ersten Regungen des Verstandes- und Gemüthslebens.
Da mit dem ersten Verlangen, Wünschen und Begehren auch die ersten Affecte, wie Freude, Zorn, Furcht, Zuneigung sich einstellen, so liegt es auf der Hand, daß die ersten Spuren geistiger Anomalie schon sehr früh, im ersten Lebensjahre entstehen können und im zweiten Jahre schon das Temperament sich deutlich ausspricht. Lange vor der Schulzeit also sind die ersten Anfänge von geistigen Störungen, oft für die Umgebung nur als Eigenheiten, Sonderbarkeiten und Launen bemerkbar, angelegt. Wenn man die Biographie Geisteskranker aufmerksam zurückverfolgt und darin von Leuten unterstützt wird, welche die betreffenden Kranken schon in der Kindheit zu beobachten Gelegenheit hatten, so findet sich, wenn nicht Erblichkeit anzunehmen ist, schon sehr frühzeitig mancher ungewöhnliche psychische Zug, aus dem sich allmählich eine wirkliche, ausgesprochene psychische Störung entwickelte.
Die Schule kann unmöglich jede psychische Eigenart und Absonderlichkeit berücksichtigen, und dies um so weniger, als nur zu oft die häusliche Erziehung mit gewissen Verschrobenheiten, Inconsequenzen und unverständigen Grundsätzen die Quelle der ersten Anlage zu abnormer Richtung der Gemüths- und Charakerentwickelung bildet. Wenn ein solches Kind unter dem Eindrucke der Schuldisciplin, der gesteigerten Aufgaben und des höheren Pflichtenkreises geistige Störungen zeigt, so ist es wenig verständig und gerecht, zu behaupten, aus der Schule recrutirten sich die Irrenhäuser. Es wäre viel correcter, die häusliche Pflege des Gemüths und Charakters sorgsamer zu überwachen und zu leiten und durch eine normale, vernünftige, harmonische Erziehung, durch Erweckung und Pflege aller edlen Regungen, durch Abhalten und Entfernen schädlicher Einflüsse, durch Ueberwachen des Verkehrs und zweckmäßige, dem Gehirn angepaßte Einteilung der Zeit und Kraft das Kind zu einem normalen Menschen heranzubilden.
Man zügle die kleinen Leidenschaften, anstatt sie interessant zu finden, man dämpfe die Affecte, oder leite sie in richtige Bahnen, ehe sie zu bleibender Gewohnheit werden, man verhüte
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_555.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2023)