Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Gerüste standen und das Gelingen des berühmten Werkes mit perlendem Rheinwein feierten, erschollen unten an den Stufen des Denkmals die Weisen der „Wacht am Rhein“, welche fünfzig Seminaristen aus Boppard unter der Leitung ihres Lehrers mit voller Begeisterung vortrugen. Dann wandte sich ein Schützengenosse mit einer Ansprache an die um das Denkmal geschaarte Menge. Da krachten wieder Böllerschüsse, und Hochrufe auf die Meister wurden laut, und so schloß die einfache, aber erhebende Feier, die dem Gedächtniß aller Teilnehmer sich unauslöschlich eingeprägt hat.
Wir aber rufen allen unsern Lesern zu: Auf Wiedersehen am 28. September auf der Höhe des Niederwalds!
Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?
Sehr viel wird in unserer Zeit von der Nervosität und den Nervenleiden mancher Schulkinder gesprochen.
Natürlich wird auch diese Calamität nur den Einflüssen der Schule zugeschrieben. Daß unsere ganze Generation, in Folge des heutigen Culturzustandes, zu nervöser Ueberreizung neigt, daß in vielen Fällen ererbte oder frühzeitig ausgebildete Anlage vorhanden ist und gar oft die unzweckmäßige häusliche Erziehung, die frühzeitige Zerstreuungs- und Vergnügungssucht mindestens ebenso viel Schuld haben, wie die Schule – wer gesteht dies zu? – Der Balken im eigenen Auge wird eben nicht beachtet. Freilich ist es durchaus klar, daß eine Summe von Gelegenheitsursachen gleichzeitig mit dem Schulbesuch und auch zum Theil durch das Wesen und den Charakter der Schule in Thätigkeit tritt. Schon der gesetzlich festgestellte Termin der Schulpflicht ist, nach ärztlichen Begriffen, in ein zu zartes Alter verlegt und ohne Rücksicht auf die verschiedene Entwicklung der Kinder ein zu früher. Er zwingt alle Kinder gleichmäßig in einem Durchschnittsalter, ohne vorherige ärztliche Ausmusterung der noch nicht genügend Kräftigen, in das Joch des Schulzwanges, wo ihnen vielleicht das Spiel noch dienlicher wäre. Wer denkt dabei nicht an Schiller’s Worte:
„Spiele! Bald wird die Arbeit kommen, die hag’re und ernste,
Und der gebietenden Pflicht mangeln die Lust und der Muth.“
Wenn sich aus dieser für manches Kind entschieden verfrühten Anspannung eine geistige Schlaffheit entwickelt, so ist, wie man auf den ersten Blick meinen sollte, diese vorzeitige Schulpflicht mit ihren das noch nicht genügend ausgebildete Gehirn und noch nicht so widerstandsfähige Nervensystem abspannenden Aufgaben die Ursache.
In Wirklichkeit unterliegt aber die Familie gar nicht diesem Zwange, ein noch minderkräftiges Kind in die Schule zu schicken. Das Zeugniß des Arztes genügt schon, um den Beginn des Schulunterrichts bei reizbaren, schwächlichen Kindern noch hinauszuschieben.
Aber damit ist leider eben vielen Eltern, welche es kaum erwarten können, ihre Kinder der Schule zuzuführen, gar nicht gedient. Getrieben von einer Ungeduld und Eitelkeit sind sie es, gegen deren Anforderung sich noch mancher Leiter einer Schule abwehrend verhalten möchte. Anstatt es dem Urtheile ihres Hausarztes anheim zu geben, ob das Kind einer geregelten geistigen Anstrengung schon gewachsen ist, handeln sie nach eigenem Ermessen und schaffen dadurch jene Fälle von frühzeitiger Entwicklung, von vorzeitigem Verbrauch und überraschend schnellem Nachlaß der Energie des Gehirns, welche dem raschen Dahinwelken künstlich getriebener Pflanzen ähnelt.
Ueberhaupt gilt die „Nervosität“ vieler Schulkinder, die sich besonders in nervöser Reizbarkeit ausspricht, so recht eigentlich als der Typus einer Schulkrankheit. Eine gewisse Ueberhastung des Lehrganges, eine in höheren Schulen und Classen fast bis zur Unvernunft sich steigernde Ueberbürdung, eine von Jahr zu Jahr steigende Ueberfülle von Lehrgegenständen und ein Aufstellen zu hoher Ziele – das sind die allgemeinen Klagen der Eltern schulpflichtiger Kinder, Klagen, die eine gewisse Berechtigung haben.
Ja, es liegt in diesen gesteigerten Ansprüchen der Schule an das Kind geradezu eine Gefahr, die man erkannt und die bereits eine mächtige Gegenströmung hervorgerufen hat.
Und doch ist, wie es scheint, der Grund zum großen Theil erst in den gesteigerten Ansprüchen der Eltern an die Schule zu suchen, von welcher eine Fülle von Belehrungen in allen Fächern, eine rasche geistige Förderung auf den verschiedensten Gebieten verlangt oder doch erwartet wird. Diesen Wünschen glaubt die „Schule“ Rechnung tragen zu müssen, indem sie dieselben zugleich überflügelt. Zu den gesteigerten Anforderungen des Unterrichts in der Schule gesellen sich nicht nur die hier und da zu reichlichen häuslichen Aufgaben, sondern die kärgliche Erholungszeit wird noch durch Privatstunden in allen möglichen Fächern eingeschränkt. Hier ist also eine Entlastung der Schulkinder, nicht nur von Seiten der Schule, sondern noch viel mehr von Seiten des Hauses geboten. Erst wenn man sich daran gewöhnt haben wird, nicht jedes Kind in Lehrgegenständen, zu denen es oft absolut kein Talent hat, ausbilden zu wollen, werden jene Zustände nervöser Ueberreizung seltener werden, unter denen jetzt das übermäßig beschäftigte Schulkind leidet. Unser mehrfach citirter Gewährsmann trifft auch hier den Nagel auf den Kopf, indem er schreibt: „Häufig ist die Ueberbürdung der Familie zur Last zu legen, die aus Eitelkeitsrücksichten dem Kinde höhere Ziele steckt, als die Anlagen desselben es gestatten.“
Leider sind manche Kinder so erregbaren Naturells, daß schon der Beginn des Schulunterrichts trotz der in den ersten Jahren nur mäßigen Anforderungen nervösen Kopfschmerz und Reizzustände hervorruft, und letztere Erscheinungen sich in Aufregung, fieberhafter Unruhe, gestörtem Schlaf, Furcht- und Angstgefühl, Schreckhaftigkeit und Neigung zum Phantasiren äußern. In Delirien zeigt sich, daß die Gedanken nur bei der Schule verweilen. Man kann zuweilen sogar das Bild einer scheinbar drohenden Gehirnerkrankung vor sich haben. Gewiß ist es, daß übertriebene Strenge und Ueberspannung des Ehrgeizes, diese hauptsächlichsten Quellen solcher peinlicher Symptome, fast ebenso außer, wie in der Schule zu Tage treten, und daß es für gewisse Kinder deshalb geradezu geboten ist, daß die Eltern und Erzieherinnen Geduld, Nachsicht und Eingehen auf ihre Eigenthümlichkeiten nicht außer Augen lassen.
Anstacheln des Ehrgefühls einerseits, beschämende, kränkende Bestrafung andererseits sind gewiß für träge, faule Kinder am Platze. Strebsamen, eifrigen, lernbegierigen Kindernaturen gegenüber sind solche Mittel gefährlich; was für das eine heilsame Arznei ist, ist für das andere ein bedenkliches Gift.
Wie bekannt, ist der Blutreichthum der das Gehirn ernährenden Gefäße ein stets wechselnder. Manche Kinder neigen von Haus aus zu Blutmangel oder Blutüberfüllung des Gehirns, und beide schon lange vor der Schulzeit bestehende Zustände können, nachdem schon vorher die Zahnung, manche Aufregung, die Sonnenhitze und andere Einflüsse sie gesteigert hatten, mit Beginne des Schulbesuchs sich verstärken und gelegentlich sogar zu sehr stürmischen Symptomen Veranlassung geben. Blutarmut des Gehirns, meist eine Theilerscheinung allgemeiner Blutarmut, wird sich durch Neigung zu Schwindel, Ohnmacht, Erbrechen, Kopfschmerz und leichtes Ermüden der geistigen Thätigkeit äußern. Aehnlich ist das Bild bei Blutüberfüllung des Gehirns, die bekanntlich bei jeder Geistesarbeit und Gemüthsaufregung in Form von Congestion zunimmt, aber auch als Stauung durch anhaltendes Gebücktsitzen, durch gestörte Verdauung und Hindernisse eines freien Blutumlaufs auftritt.
Nur das Auge des Arztes kann in manchen Fällen, besonders bei allgemeiner Bleichsucht, entscheiden, ob es sich, trotz anscheinender Blutarmut, doch dabei um örtlichen Blutandrang handelt. Nur der Arzt also kann das hygienisch-diätetische Verhalten regeln und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_554.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)