Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Arbeiten, das Tintenfaß wieder herausgenommen werden kann, um an seinen gehörigen Platz gebracht zu werden, so erleichtert dies den Gebrauch dieses Geradehalters noch besonders.
Hier ist also derselbe Effect erreicht, daß das Kind sich bei seinen häuslichen Schularbeiten – und hierfür ist die Vorrichtung zunächst bestimmt – nicht zu nahe vorbiegen kann, aber zugleich ist jeder Druck auf den Brustkasten, jede Behinderung der Lungen vollständig ausgeschlossen. Die oberen Lungengebiete, die sonst bei der bockigen Haltung keine Hebung der obersten Rippen, keine Vorwölbung ausführen können und bekanntlich am frühesten der Sitz unheilbarer Erkrankung werden, behalten hier eine freie Function, ja diese wird befördert. Diejenigen Augen- und Lungenleiden, die ihren Grund nur in vernachlässigter gebückter Haltung haben, werden, soweit dies überhaupt durch einen solchen Apparat zu verhüten ist, von Anfang an rationell bekämpft. Der Hauptzweck aber, die zwanglose Streckung der Wirbelsäule, die natürliche, freie, nicht tief herabgebückte Haltung des Kopfes, die ganz naturgemäß bleibende Blutcirculation, und die für jedes Kind leichte Anwendung mit gewohnten Handgriffen – alles dies dürfte wohl die Einführung einer sehr einfachen Vorrichtung in geeigneten Fällen als berechtigt erscheinen lassen. Dieselbe würde gewiß dazu beitragen, einer der häufigsten sogenannten „Schulkrankheiten“ mit mehr Erfolg. als bisher, vorzubeugen.
Und das Verhüten von Krankheiten ist ja beim Kinde von ungleich höherer Bedeutung, es ist besonders bei Verkrümmungen und Verbiegungen des noch nicht völlig verknöcherten Skelets dankbarer und erfolgreicher, als die orthopädische Verbesserung ausgebildeter, gewissermaßen erstarrter Mißgestaltungen, daß man stets hier an das Beachten und Bekämpfen der unscheinbarsten Anfänge denken sollte.
Natürlich schließe ich mich vollkommen der Ansicht an, daß ein Geradehalter niemals nützen, ja eher schaden kann, wenn die Muskulatur und der Knochenbau des Kindes für ein längeres freiwilliges Geradehalten noch zu schwach sind. Kräftigung des Körpers muß hier unzweifelhaft vorangehen.
Die Schuhmacherbörse in Berlin.
Noch vor dreizehn Jahren hatte die Börse für den Nichtkaufmann nur ästhetischen Werth. War man in einer mit einer Börse beglückten Stadt zu Besuch, so wurde man darauf aufmerksam gemacht, daß von der Gallerie aus das Durcheinandersprechen der Stimmen dem Brausen des Meeres gliche. Man stieg zu diesem Zweck in Frankfurt oder in Hamburg auf einige Stunden aus, wie man in Haarlem oder Freiburg aussteigt, um die berühmten Orgeln zu hören. Das Rauschen des Börsenmeeres aber erfüllte den musikalisch und poetisch beanlagten Laien mit dem Gefühle des Erhabenen. Er glaubte die gewaltige Majestät des wirthschaftlichen Verkehrs gesehen und gehört zu haben. Und wie war man im Innersten geruhrt und erfreut, wenn man diese unendlich großen Männer, welche das Rad der Zeit ein wenig in den Händen hatten, an der Fruchtbörse mit Erbsen- und Bohnenproben nach einem einsamen Hute auf der Gallerie werfen sah, oder wenn man, durch einen guten Freund auf den Schauplatz der Begebenheiten geführt, bemerkte, daß die ernsten Helden des Courszettels und des Ultimo auch für die minder ernsten Angelegenheiten des irdischen Lebens Interesse hatten, wie sich Meyer und Mayer z. B., angenehm auf eine Causeuse hingegossen, ungezwungen über die Prima Ballerina und die neue Luftvoltigeuse unterhielten. Ach, die Zeiten sind längst dahin! Man befand sich damals noch in dem wirthschaftlichen Unschuldszustande. Wenn man jetzt von der Börse spricht, so denk man an Giftbäume, unsinnige Speculationen, ungeheure Gewinnste, vernichtenden Verlust, Thränen von Wittwen und Waisen und einiges Andere.
Daran aber sollte man bei der Berliner Schuhmacherbörse nicht denken. Sie ist, was die Börse sein will und soll, eine Vereinigung von Kaufleuten, in diesem Falle also von Handwerkern, zur Abschließung von Geschäften und zum Zwecke eines rascheren Ueberblickes über den Markt. Man gab durch dieselbe dem Handwerke eine kaufmännische Organisation, um es gegen die kaufmännische Conncurrenz zu schützen. Diese Concurrenz müssen wir uns vor Allem vergegenwärtigen, wenn wir die Bedeutung der genannten Börse begreifen wollen.
Ein Jeder von uns kennt die großstädtischen Kleider- und Schuhmagazine, welche gewöhnlich von einem Kaufmanne gehalten werden. Derselbe kauft die Rohmaterialien im Großen, also billiger ein, als der Handwerksmeister, welcher nur über geringes Geldcapital verfügt, läßt eine Reihe von Handwerkern für sich arbeiten und beschäftigt sie auch für geringen Lohn, wenn sonst Geschäftsstille herrscht. Je mehr die Löhne gedrückt werden, um so höher hebt sich natürlich der Gewinn des Unternehmers und um so billiger kann er verkaufen. Aus diesem Grunde sind die Löhne der für ein Magazin arbeitenden Handwerker natürlich außerordentlich gering.
Noch trauriger gestalten sich die Verhältnisse, wenn eine Mittelsperson, gewöhnlich ein Handwerker, zwischen dem Unternehmer und den Handwerkern steht, welcher die gesammten Aufträge des Magazininhabers übernimmt, sie dann an die einzelnen Handwerker überträgt und die fertigen Waaren wieder an denselben gegen baare Zahlung abliefert. Dieser zweite Unternehmer will auch einen guten Verdienst haben. Der Unternehmer ist nicht geneigt, ihm denselben aus seiner Tasche zukommen zu lassen; also muß er die Arbeitslöhne, welche er den einzelnen Handwerkern auszahlt, verkürzen. Ein solcher Handwerker in einer großen Stadt Europas theilte mir mit, daß er wöchentlich zweihundert Mark verdiene. Der Arbeiter muß, um leben zu können, seine Arbeit rasch und oberflächlich anfertigen, das höchste Dachzimmerchen beziehen, die elendeste und kärglichste Nahrung zu sich nehmen.
Die großen Magazine sind deshalb sowohl dem auf Bestellung arbeitenden, sonst wohlsituirten Handwerksmeister, als dem kleinen Arbeiter ein Dorn im Auge. Da sie billiger verkaufen, als er verkaufen kann, nehmen sie dem Ersteren all die Kunden weg, welche für gute Arbeit und genaues Sitzen keine hohen Auslagen bezahlen können und die wahrscheinlich höheren Rohstoffpreise des Handwerksmeisters nicht bezahlen wollen. Der arme Arbeiter aber sieht sich und seine Familie in seiner Existenz bedroht; auch der Ausweg, mehr und schlechtere Arbeit in derselben Zeit zu machen, rettet ihn nicht immer und jedenfalls nicht auf lange Zeit. Der Arbeitgeber weist minderwertige Arbeit zurück, lohnt sie im Einzelnen schlechter, oder setzt allmählich den Stücklohn herunter.
Handwerksmeister und selbständiger Arbeiter haben darum Beide das Interesse daran, die Concurrenz der Kaufleute auf dem Gebiete des Handwerks unschädlich oder unmöglich zu machen. Die Gesetzgebung wird sich schwerlich dazu verstehen, dieselbe zu unterdrücken. Der Handwerksmeister muß deshalb entweder selbst Kaufmann werden, selbst ein Magazin halten, oder eine Production genossenschaftlich mit Anderen eingehen. Im ersteren Falle wird er sich mit Anderen zum gemeinschaftlichen und billigen Ankaufe von Rohstoffen in großen Quantitäten verbinden. Aber der großen Masse der Arbeiter ist damit nicht geholfen. Man muß sie in eine solche Lage versetzen, daß sie ihre Arbeit verkaufen können, ohne daß sie auf Bestellung eines Unternehmers arbeiten und ohne daß aus ihrem Arbeitsverdienste der Gewinn des Mittelsmannes und des Arbeitgebers bestritten zu werden braucht.
Das hat man für das Schuhmacherhandwerk mit der Berliner Schuhlmacherbörse erreicht. Jeder selbstständige Handwerker kann auf seinen Gewerbeschein hin und gegen die geringe Gebühr von fünfundzwanzig Pfennig einmal in der Woche, und zwar Montags von zehn bis ein Uhr, seine fertige Waare in dem großen Saale des Handwerkervereins ausstellen und sie dort verkaufen. Hierdurch erhält er zunächst in kleinen Zwischenräumen den Lohn für seine Arbeit. Indem er ferner die Waaren seiner Concurrenten sieht und die Verläufe beobachtet, gewinnt er den besten Ueberblick über die Art und Qualität der verlangten Waare. Ein weiterer Vortheil ist der, daß die Schuhmacherbörse die Arbeitsleistung befördert, weil Jeder eine größere Sicherheit hat, daß die Arbeit, zu der ihn Befähigung, Gewohnheit und andere Umstände bestimmen, auch wirklich gekauft wird.
Ebenso hoch muß man es anschlagen, daß jeder Handwerker
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_542.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)