Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?
Neben der Kurzsichtigkeit nimmt die „Schiefheit der Schultern“ und die „Krümmung der Wirbelsäule“ einen bedeutenden Rang unter den sogenannten „Schulkrankeiten“ ein. „Seit mein Kind in die Schule geht, hat es eine schlechte Haltung,“ hört man die Mütter so häufig klagen, daß man ohne Weiteres die Schule auch für die Erkrankungen des Knochenbaues zur Verantwortung ziehen möchte.
Auch hier liegt es dem Verfasser fern, die Schule von allem Antheil an derartigen Mißgestaltungen frei zu sprechen. Allein nicht jeder Mensch ist von Haus aus „schlank wie eine Tanne“ und von jener gesunden Beschaffenheit seiner Knochen, daß er in normaler Schönheit und Regelmäßigkeit emporwächst. Besonders die Mädchen stellen schon frühzeitig ein größeres Contingent zu der Zahl von Fällen regelwidriger Haltung, die man als Arzt zu beobachten Gelegenheit hat. So viel auch schon über die als „Skoliose“ bekannte Seitwärtskrümmung und Achsendrehung der Wirbelsäule geschrieben und für deren orthopädische Behandlung angegeben worden ist, so wenig wird man im Stande sein, dieselbe durch Schulreformen aus der Welt zu schaffen. Es ist ja gar nicht zu leugnen, daß das anhaltende Sitzen in der Classe eine krankhafte Neigung des Skelets nicht verbessern kann, daß Abweichungen leichter Natur, die dem Auge der Eltern bis dahin entgingen, im Schulalter eine immer zunehmende Verstärkung erfahren. Die besorgten Eltern, welche ihren Liebling alsdann erst, wenn auch ein Blinder das Uebel erkennen könnte, dem Arzte mit Vorwürfen gegen die Schule zuführen, ahnen in vielen Fällen nicht, wie ungerecht sie sind. Wie bei vielen chronischen Leiden des Kindesalters tönt ihnen auch hier das verhängnißvolle „Zu spät!“ entgegen. Was vermögen Klagen über die Machtlosigkeit des Arztes gegenüber schon ausgebildeten Deformitäten!
Schlummerten doch die Keime oft schon in dem Kinde, ehe es das Licht der Welt erblickte! Kaum ein anderer als der Familienarzt, der nicht selten mehrere Generationen in allen Phasen ihrer Körperentwickelung und Krankheitsanlage verfolgen kann, ist im Stande, die Wahrheit des biblischen Wortes zu verstehen, welches die Vererbung der Sünden der Väter von Geschlecht zu Geschlecht mit ernster Mahnung predigt. Möge die Tilgung der „Sünden“ in sittlicher Beziehung mehr Aufgabe des Theologen sein: der Arzt denkt hierbei vor Allem an die Sünden im hygienischen Sinne. Ihm wird der Zusammenhang klar zwischen chronischen Ernährungsstörungen der Großeltern, Eltern und Kinder; er sieht die verderblichen Folgen der Ehen scrophulöser, rachitischer, blutarmer oder zu Tuberkulose geneigter Individuen vor sich. Die Entartung mancher Familien vollzieht sich unter seinen Augen, und in dem schlaffen, schlecht genährten, blassen und knochenschwachen Nachwuchs erblickt er nur das verstärkte Abbild ungesunder Ahnen.
Angeborene oder sehr frühzeitig erworbene Knochenschwäche und Rachitis sind, zum Theil in Folge fortgesetzter unvernünftiger Aufziehung und Ernährung der Kinder, selbst in besser situirten Familien verbreitete Leiden und scrophulöse Knochenleiden ebenfalls keine Seltenheiten. Kein Wunder, wenn bei so vielen Kindern eine Neigung zu Verbiegungen und Verkrümmungen des noch widerstandslosen, nachgiebigen Skelets sich zeigt, sobald das Sitzen, Stehen und Gehen beginnt.
Wenn dann solche mit krankhafter Anlage zu Skoliose oder leichtesten Graden derselben bereits behaftete Kinder die Schule besuchen und nunmehr durch das anhaltendere Sitzen die Rumpflast und der Muskelzug solche Mißgestaltungen verstärken, ist die Schule gewiß nicht allein schuld. Man sehe doch einmal, wie durch einseitiges Tragen auf ein und derselben Arme sich selbst bei einem anfangs gesunden Kinde die Wirbelsäule seitwärts biegt (vergl. Fig. 1), bis sie durch den einseitigen Druck es verlernt, sich wieder völlig gerade zu strecken.
Man sehe, wie durch stetes Führen an einer und derselben Hand eine Schulter und die betreffende Partie der Wirbelsäule in die Höhe gezogen wird und sich schließlich als bleibende „hohe Schulter“ darstellt. Um wie vieles mehr müssen solche andauernd falsche Haltungen nachtheilig wirken, wenn dem Knochen die gehörige Festigkeit fehlt, wenn er in krankhafter Weise knorpelig, biegsam bleibt und der sich jahrelang wiederholenden Wirkung von Schwere, Druck und Zug folgt, um endlich in abnormer Stellung zu erhärten. Auch die Art, wie die Kinder gehen lernen, legt nicht selten den Grund zu Mißgestalt der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine, zumal die Unsitte, die Kinder zum Stehen und Gehen anzuhalten, noch ehe die Knochen der Beine die nöthige Festigkeit besitzen, um die Körperlast zu tragen.
Im Gegensatz zu den völlig verwerflichen Laufstühlen und Laufkörben ist ein recht zweckmäßiger Apparat, um den Kindern das Stehen- und Gehenlernen völlig und mit Ruhe selbst zu überlassen, die sogenannte Gehbarrière[1]. Dieselbe besteht aus vier leicht zusammenzufügenden, innen gepolsterten Schranken, innerhalb deren das Kind, auf einer ausgebreiteten Decke sitzend, spielt.
Es mag umfallen, sich wieder erheben, nach und nach an einer innen verlaufenden, dicken Wollenschnur sich anhalten und nach Maßgabe seiner eigenen Kräfte aufrichten, schließlich fortbewegen – Alles dies geschieht naturgemäß nach und nach und stets im Einklange mit der Körperentwickelung.
Von einem Drucke gegen die Brust, von einem Hängen des Körpers in den Achseln ist hier keine Rede. Beruhigt kann die Mutter das Zimmer verlassen; das Kind vermag weder Möbels, welche leicht umfallen oder fortgleiten, noch den Ofen, noch etwas Zerbrechliches zu erreichen und wird im Gerade-Stehen, in Aneignung richtiger Körperhaltung sein eigener Lehrmeister.
Es wird behauptet, die Skoliose entstehe erst im sechsten bis achten Jahre, und zwar in Folge der weniger widerstandsfähigen Wirbel und der schwächlicheren Muskulatur in acht Zehntel bis neun Zehntel aller Fälle bei Mädchen. Aber sehr viele Specialisten, von Malgaigne bis Hueter, haben dennoch mit Recht auf die unumstößliche Thatsache hingewiesen, daß schon in der ungleichmäßigen Entwickelung des Knochenbaues, der Wirbelsäule, der Rippen die Ursache gegeben ist.
Jeder Kinderarzt kann es bestätigen, daß neben den angeborenen und sehr frühzeitig erworbenen Anlagen zu Skoliose, die mit der Schule absolut noch nichts zu thun hat, auch die während der Schulzeit sich ausbildende Skoliose auf mechanische Ursachen, nämlich auf falsche Haltung und vorwiegende Beschäftigung mit dem rechten Arme zurückzuführen ist, Ursachen, die gewiß zum großen Theil im Hause sich geltend machen. Wenn man die Kinder bei ihren häuslichen schriftlichen Arbeiten oder beim Lesen beobachtet, ihr Sitzen an hohen Tischen mit horizontaler Platte, ja selbst an Kommoden oder Fensterbrettern, ihre nachlässige, schiefe Haltung mit schräg gelegtem Hefte, auf Stühlen, die dem ermüdenden Rücken nicht die geringste Stütze gewähren, dann ist es wohl kaum zu verwundern, wenn die weitverbreitete rechtsseitige Skoliose sich ausbildet. Es wird in dieser Hinsicht das „Herauswachsen“ der Kinder aus ihren Möbels vollständig unterschätzt.
Ein Stuhl, eine Schulbank, die für das Kind nicht mehr paßt, ist nicht nur unnütz, sondern, da sie das Kind zu einer
- ↑ Käuflich bei Bandagist Joh. Reichel, Leipzig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_538.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2024)