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Seite:Die Gartenlaube (1883) 535.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

durch tägliche Telegramme alles Nähere über ihre Zu- und Abnahme in den einzelnen Städten und Ortschaften. Ebenso fehlt es nicht an Schilderungen, die im Allgemeinen und so weit dies überhaupt durch kurze Zeitungsberichte möglich ist, ein ganz getreues Bild der augenblicklich dort herrschenden Zustände geben, leider ein Bild heilloser Verwirrung und Verkommenheit, physisch sowohl wie moralisch – in dieser Beziehung könnten wir also höchstens nur weiter ausmalen und zu dem bereits bekannten Tableau noch einige andere, ähnliche hinzufügen.

Wir bezwecken aber mit unserem heutigen Artikel etwas Anderes. Wir wollen nämlich einen Blick auf die Epidemie selbst werfen, und zwar mit directem Hinweis auf Sitten und Gebräuche, auf Lebens- und Anschauungsweise, kurz auf den ganzen Culturzustand der ägyptischen Bevölkerung, wie wir dieselbe während eines mehrjährigen Aufenthaltes im Pharaonenlande aus eigener Anschauung kennen gelernt und vielfach eingehend studirt haben. Vielleicht würde dies zu einer noch besseren und richtigeren Beurtheilung der Sachlage Einiges beitragen.

Wie im ganzen Orient, so ist auch streng genommen die Cholera in Aegypten endemisch. das heißt einheimisch, also eine Landeskrankheit; sie tritt auch in jedem Jahre während der heißen Monate vereinzelt auf, wird im Volke die „leichte Cholera“ genannt, als Cholerine und Dysenterie behandelt und erregt auch kein weiteres Aufsehen, obwohl die schwachen davon ergriffenen Constitutionen und namentlich die Kinder, vielfach daran sterben. Bei den alljährlichen Pilgerkarawanen, die durch die arabische Wüste oder auch über Suez nach Mekka ziehen, kommen schon ernstere und weit häufigere Fälle von wirklicher asiatischer Cholera vor, weshalb die nach Aegypten zurückkehrenden Pilger schon seit Jahren einer längeren oder kürzeren Quarantaine in Tor auf der Sinai-Halbinsel unterworfen werden. Auch ist den Pilgern längst nicht mehr gestattet, in einem großen, nach vielen Tausenden zählenden allgemeinen Zuge, wie dies früher stets der Fall war, in Kairo feierlich einzuziehen, sondern sie müssen sich jetzt immer einige Meilen ober- und unterhalb der Hauptstadt auflösen und vertheilen, sodaß nur die in Kairo Ansässigen dahin zurückkehren. Die sehr verständige Maßregel, die auch von den Behörden im Ganzen recht gut durchgeführt wird, hat stets die besten Folgen gehabt.

In Syrien und Mesopotamien dagegen, und speciell in den beiden Hauptstädten Damaskus und Bagdad ist die Cholera vollends einheimisch, und weit mehr noch als in Aegypten; ganz wie in anderen Ländern das gelbe Fieber, die Malaria, die Blattern und ähnliche endemische Krankheiten, und zwar mit meist tödtlichem Ausgang.

Epidemisch, das heißt sich weiter verbreitend und ganze Länderstrecken durchwandernd und schrecklich heimsuchend, tritt sie von den eben genannten Ausgangspunkten gottlob weit seltener auf; nach den neuesten Beobachtungen etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre, obwohl auch dafür kein fester Anhalt gegeben ist.

Aehnlich war es in früheren Jahrhunderten und noch zu Anfang des jetzigen mit der Pest, die auch immer nur in gewissen Zeiträumen erschien und furchtbar verheerend durch die Länder zog. Das letzte große Pestjahr, das namentlich Aegypten heimsuchte, welches von jeher, wenn auch nicht erwiesen, als der eigentliche Herd der Pest angesehen wurde, ist das Jahr 1835, und wir haben von dem bekannten Afrikareisenden Baron Wrede, der sich zu jener Zeit in Kairo aufhielt, eine ergreifende Schilderung jener furchtbaren Krankheit.

„Erschütternd und Entsetzen erregend,“ so berichtet er, „ist der Anblick der von dieser schrecklichsten aller Epidemien heimgesuchten Stadt. Die Kaufläden sind sämmtlich geschlossen, die Bazare verödet, einzelne Straßen wie ausgestorben. Lange Reihen von Särgen mit den Leichen der Wohlhabenderen und nicht minder lange Züge von Kameelen, die mit den nackten Leichnamen der Armen beladen sind, ersetzen das Gewühl, welches in gesunden Tagen die Straßen belebt, und die eintönigen Weisen der Klagesänger und das Wehgeheul der Klageweiber und weiblichen Verwandten der Gestorbenen bilden dazu einen Herz und Ohr zerreißenden Chorus. Furchtbar durch die Unerbittlichkeit, mit der die Pest ihre Opfer ergreift, wird sie noch um so schrecklicher durch ihren detmoralisirenden Einfluß, den sie auf die heimgesuchte Bevölkerung ausübt: das Entsetzen und die stete Todesangst ersticken alle sanfteren Regungen des Herzens, Eltern verlassen ihre Kinder, Brüder ihre Schwestern, die Gattin überläßt den Gatten seinem Schicksale, und kein Freund schließt dem anderen das brechende Auge zu.“

Das war die letzte sogenannte „Große Pest“ in Aegypten[1] und überhaupt im Orient, und es scheint, als ob die tausendjährige Völkergeisel (denn man kannte sie bereits im Alterthum und auch im Alten Testament ist von ihr die Rede) jedenfalls in ihrer länderverheerenden Ausdehnung so gut wie gelähmt und vernichtet ist.

Wenn wir aber soeben über die Pest in Aegypten das Citat eines Augenzeugen brachten, so geschah es zumeist deswegen, weil dasselbe zugleich ein getreues Bild von den Zuständen in Kairo liefert, wenn dort, anstatt der Pest, die Cholera eingezogen ist und ihre fürchterliche Ernte hält. Sie erschien in Aegypten zuletzt im Jahre 1865, und noch heute denken alle Diejenigen, die jene Schreckenszeit erlebt haben, mit Angst und Grausen daran zurück.

Der jüngst abgesetzte Khedive Ismail hatte erst kurz vorher die Regierung angetreten, und von allen Reformen, die er so überlaut verheißen, standen die meisten noch auf dem Papier. Viele von ihnen (nebenbei bemerkt) haben überhaupt kein anderes Schicksal gehabt, aber um die bessere Organisation der Gesundheitspolizei in den größeren Städten hat er sich unbestreitbare Verdienste erworben.

Dies gilt vorzugsweise von Kairo, das in zwölf „Districte“ eingetheilt wurde, deren jeder einen amtlich angestellten und gut besoldeten europäischen Arzt erhielt, der verpflichtet war, Gratis-Consultationen zu geben und die ärmeren Kranken in ihren Wohnungen zu besuchen. Mehrere von diesen Doctoren, unter denen sich auch einige Deutsche befanden, bekamen bald eine einträgliche Privatpraxis und haben eine gute Carrière gemacht. Leider war dies Institut in dem eben erwähnten Cholerajahre 1865 noch nicht ins Leben getreten, es hätte sich sonst vielleicht sehr nützlich in der Bekämpfung der Epidemie erweisen können – vielleicht aber auch nicht, denn der Widerwille der arabischen Bevölkerung und überhaupt der Mohammedaner gegen christliche Aerzte ist sehr groß und schwer auszurotten.

Dies bringt uns auf einen Hauptpunkt unseres heutigen Artikels, nämlich auf die arabische Gesundheitspflege und Medicin an sich und auf ihre Stellung zur europäischen. Schroffer kann sich wohl kaum etwas in der Welt gegenüberstehen, als der arabische oder, was so ziemlich dasselbe bedeutet, der mohammedanische Arzt – der Hakihm – einem christlichen Doctor der Medicin.

Der Islam selbst steht mit seinen Grundlehren in keinem größeren Gegensatze zum Christenthum, als auf jenem Gebiete diese beiden „Gelehrten“, denn der Hakihm macht ganz ernsthaft Anspruch auf diesen Titel, wenn auch sein Wissen und Können bei Lichte besehen nach unseren Begriffen von Heilkunde und überhaupt von medizinischen Wissenschaften fast auf Null herabsinkt. „Ein deutscher Barbiergehülfe,“ hört man oft in Kairo sagen, „versteht mehr von der Heilkunde, als der renommirteste arabische Hakihm.“ Diese Aeußerung, so charakteristisch sie auch in mancher Beziehung sein mag, ist doch nicht zutreffend, denn die Verhältnisse liegen eben im Orient ganz anders. Der Koran ist bekanntlich für die Mohammedaner das Universalbuch aller Gelehrsamkeit und aller Wissenschaft. Wie die gesammte Gesetzgebung und Rechtspflege darauf fußen, so bildet er auch die Norm für jedes andere Gebiet des menschlichen Wissens, das stets direct oder indirect mit den eigentlichen Glaubenslehren zusammenhängt.

Das Wenige, was der Koran an ärztlichen oder darauf hinweisenden Vorschriften enthält, bezieht sich auf die allgemeine Gesundheitspflege; sie sind zumeist klimatischer, mithin rein örtlicher Natur, ähnlich wie im Alten Testament die Vorschriften der Körperwaschungen, der Reinhaltung verschiedener Gefäße, das Verbot gewisser Speisen und Sonstiges von ganz allgemeiner und untergeordneter Bedeutung.

In der el Azhar-Moschee zu Kairo, der ersten „Universität“ der mohammedanischen Welt, wird Krankenheilkunde, wenigstens nach unseren Begriffen, nicht gelehrt; wohl aber giebt es dort


  1. Sie trat freilich im Jahre 1841 noch einmal, aber weit schwächer auf und ist seitdem, wenigstens als Epidemie, in Aegypten ausgetrieben. Vor zwei Jahren zeigte sie sich in Damaskus, und man erinnert sich wohl noch der damaligen vorbeugenden Maßregeln, welche die ost- und mitteleuropäischen Regierungen ergriffen. Glücklicher Weise waren die Befürchtungen übertrieben, und selbst in Syrien, einzelne noch dazu zweifelhafte Fälle in Beyrut abgerechnet, kam die Epidemie nicht über den anfänglichen Herd hinaus.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_535.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)