Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Uebrigens harrte auch der Ehemänner, wenn sie ihre Frauen allzu hart geschlagen hatten, die wohlverdiente Strafe. In solchen Fällen trat in den früheren Jahrhunderten des Mittelalters eine Art Gottesgericht in Kraft, eine höchst eigenthümliche Art von Zweikampf, wie wir dies in dem Artikel „Altfränkisches Eherecht und Kampfgericht“, im Jahrgang 1869, (Seite 357) in Wort und Bild dargestellt haben. Zur Ehre unserer Vorfahren muß gesagt werden, daß das Fortbestehen jener Unsitte über das zwölfte oder höchstens das dreizehnte Jahrhundert hinaus kaum nachzuweisen sein dürfte.
Um jedoch nochmals auf den eigentlichen Fall unserer Darstellung, den, wo eine Frau ihren Mann geschlagen hatte, zurückzukommen, so galt solche That unsern Altvordern von jeher als ein ganz besonderer Gräuel. Ein solcher Mann erschien der gesammten Gemeinde gewissermaßen als ehrlos, und oft genug zwang man ihn, sammt seiner bestraften Ehehälfte den bisherigen Wohnort zu verlassen und sich anderswo ein neues Domicil zu suchen.
Es ist gewiß erfreulicher, aus dem Leben unserer Vorfahren Edles und noch heute Erhebendes dem Auge der Gegenwart vorzuführen, und es geschieht dies ja, so oft sich uns die Gelegenheit dazu bietet; es hieße aber der Wahrheit schlecht dienen, suchten wir aus Verherrlichungssucht der Lichtseiten jener Tage über die Schatten derselben den Mantel der Vergessenheit zu breiten. Was wir oben geschildert haben, erscheint wohl unserem Auge roh und unmenschlich, aber es hat bestanden, diese Bestrafungsweise befriedigte lange Zeit das Gerechtigkeitsgefühl des gesammten Volkes, und doch waren die Menschen damals nicht schlechter, als heute, geschahen so gute, edle und große Thaten, wie heute. Es war deutsches Volk, von gesundem Kern, nur die Schale war rauher. Die naturwüchsigen Aeußerungen jenes Rechtsgefühls in voller Wahrheit dargestellt zu haben, ist ein Verdienst unseres Künstlers; er läßt uns eine Volksscene der „guten alten Zeit“ in ihrer vollsten Lebendigkeit belauschen, aber ohne in uns den Wunsch ihrer Wiederkehr anzuregen. Solche Bilder sind gar wohl geeignet, durch Vergleichung alter und neuer Zustände manche Unzufriedenheit zu mildern und trotz all der Schatten, welche über vielen unserer Verhältnisse liegen, doch mit der Gegenwart zu versöhnen.
Wie und wo entstehen die „Schulkrankheiten“?
Es giebt gewisse „Fragen“ der Gesundheitspflege, welche von dem Geiste der Neuzeit erst „geschaffen“ worden sind. Erst aus einer im Gegensatz zu früher sorgsameren Beobachtung hygienischer Gesetze, wie der Versuch und die Erfahrung sie festgestellt haben, konnten diese „Fragen“ auftauchen. Aerzte und Pädagogen haben sie aufgeworfen und zu beantworten versucht, und das bessere Element des Laien-Publicums, besonders solche Eltern, welche selbst schulpflichtige Kinder haben und deren Entwickelungsgang mit liebevoller Umsicht überwachen, nehmen lebhaften Antheil an den Verhandlungen über das „Für“ und „Wider“.
Das Interesse der weitesten Kreise für Alles, was das Schulkind betrifft, ist erklärlich und erfreulich. Unser eigen Fleisch und Blut, um dessen Wohl und Wehe es sich handelt, unsere Kinder – was sollte uns mehr interessiren? Und ist es nicht erfreulich zu sehen, wie lebhaft sanitäre Fragen – man denke nur an die Feriencolonien für schwächliche, an die See-Heilstätten für kränkliche Schulkinder – von allen Seiten aufgegriffen und unterstützt werden? Die „Schulbankfrage“, die Angelegenheit der Schulspiele, die Frage der „Ueberbürdung der Schulkinder“, der „Geisteskrankheiten im Schulalter“ wurden zu ebenso vielen Ausgangspunkten gewaltiger Bewegung in Wort und Schrift, welche ihre mächtigen Wellen bis in die ärmliche Tagelöhnerhütte, bis in den Saal der Volksvertretung unseres Reiches sendete und weit über die Grenzen Deutschlands dahinbrandet. Die Heizung, Beleuchtung und Lüftung der Schulbauten sind keine trockenen Fragen für Fachmänner, welche etwa nur am „grünen Tisch“ ihre Erledigung finden, in Acten ihr Dasein hinbringen und dem sogenannten „beschränkten Unterthanenverstand“ ein Buch mit sieben Siegeln bleiben sollen.
Es sind Früchte des praktischen Sinnes unserer Zeit, gezeitigt an „des Lebens goldnem Baum“. Wie verfolgte man die zahllosen Untersuchungen über die Beschaffenheit der Augen von Schulkindern mit Ueberraschung! Mit welcher Begeisterung wurde die Einführung des Turnens und der Körperübungsspiele aufgenommen!
Es giebt kaum ein Gebiet der Schulhygiene, wo nicht jedes Wort der Sachverständigen ein lebhaftes Echo in der Brust der Eltern geweckt hätte, denn über allen derartigen Fragen schwebt wie ein Zauber der Hauch der Worte: „Es gilt unseren Kindern,“ Worte, welche nur dem Hagestolz gleichgültig sein können.
In den meisten die Schulhygiene betreffenden derartigen Tagesfragen ist ein berechtigter Kern enthalten, und die „Schulkrankheiten“, denen in den letzten Jahrzehnten der Krieg erklärt worden ist, sind keine Phantasiegebilde überängstlicher Mediciner, die man mit dem einfachen Hinweis, daß es in der guten alten Zeit selbst mit mangelhaften Einrichtungen und ohne Schädigung unserer Voreltern ganz gut gegangen ist, in Nichts zerfließen lassen kann. Daß bestimmte Krankheiten dem Schulalter eigenthümlich sind und in einem Zusammenhange mit dem Schulbesuche stehen, dies gemeinsame Kennzeichen hat den „Schulkrankheiten“ jedenfalls zu ihrem seitdem geläufig gewordenen Namen verholfen, und seitdem steht es bei der oft gedankenlos nachbetenden Menge fest wie ein Dogma, daß alle derartigen Krankheiten nicht nur während der Schuljahre, nicht nur im Zusammenhange mit der Schule zu Stande kommen, sondern in der Schule, durch die Schule. „Die moderne Schule ist die Quelle der Schulkrankheiten“, von dieser Ueberzeugung durchdrungen, ist man befriedigt, nunmehr für mannigfache zu Tage getretene Schädigungen den Sündenbock gefunden zu haben, und mit seltener Uebereinstimmung erheben sich von ärztlicher und nichtärzlicher Seite die Klagen über die Mißbräuche, die Mängel und Schattenseiten unseres Schulwesens, welche allein viele Erkrankungen unserer Schuljugend verschuldet haben sollen.
Das „Publicum“ ist davon fest überzeugt und wenig geneigt, sich zu fragen, ob diese Ansicht richtig ist.
Um wie Vieles bequemer erscheint es, mit dem Strome zu schwimmen und die Quelle aller Uebel in den Räumen des Schulhauses zu suchen! Das Publicum hat im Ganzen und Großen zwar eine große Gabe zur Opposition, aber wenig Talent zur Kritik. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen selbstständig Denkender nimmt es gewisse Aussprüche als unumstößliche Wahrheiten auf und baut auf diesem Grunde jahrelang, jahrzehntelang weiter, bis es sich zeigt, daß dem Gebäude, so ansprechend es ist, der feste Boden fehlt.
Es erben sich eben nicht blos „Gesetz und Rechte“, sondern auch einseitige Ansichten „wie eine ewige Krankheit“ fort.
Seitdem von namhaften Aerzten, Hygienikern und Pädagogen gewisse „Schulkrankheiten“ in ihrem Wesen erkannt und schärfer festgestellt sind, fragt das Publicum nur noch: Welche Reformen sind für die Schule zur Verhütung der „Schulkrankheiten“ nöthig? Aber selten fragt Einer: Was verschuldet das Haus, die Familie hierbei?
Solche rühmliche Ausnahmen können nichts an dem bekannten Worte ändern:
„Ich hoffe, das nimmt Keiner krumm,
Denn Einer ist kein Publicum.“
Wenn man, wie der Verfasser Dieses in jahrelanger praktischer Thätigkeit als Kinderarzt, gerade der Entstehung der „Schulkrankheiten“ ein besonderes Interesse gewidmet hat, muß man mehr und mehr zu der Ueberzeugung kommen, daß es eine Pflicht der Heilkunde ist, nach Kräften ein Unrecht wieder gut machen zu helfen, welches in Folge eines Vorurtheils jahrelang dem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_518.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)