Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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häßlich sind und ihre Trägerinnen darin „schlampig“ aussehen; überdies sind diese „Vernünftigen“ fast immer ältliche Personen, während jüngere gegen die Nettigkeit in der Toilette nicht so leicht gleichgültig werden.
Jede richtige Reformbestrebung muß also sowohl die natürliche Gestalt des Körpers wie auch die Gebote der Wohlgefälligkeit berücksichtigen. Das erstere wäre mit Hülfe der Anatomie leicht zu erreichen, viel schwieriger aber das zweite, denn die Begriffe von Schönheit und Geschmack sind bekanntlich sehr verschieden. Die nettesten Reformatorinnen sind bemüht, „anmuthige“ Zukunftstrachten zu ersinnen; allein die Anschauungen von weiblicher „Anmuth“ sind durch die „süße Gewohnheit“ des Anblicks falscher „Ideale“ längst in Verwirrung gerathen. Doch man muß einmal einen Anfang machen, muß versuchen, den verderbten Geschmack zu läutern, und durch die Vorhaltung einfacherer, aber edlerer Muster zu erziehen.
Diese Aufgabe haben sich zwei Vereine gestellt, die sich in London vor etwa anderthalb Jahren bildeten und deren Bestrebungen augenblicklich recht viel von sich reden machen. Die Anregung zu ihrer Begründung gab der relativ günstige Erfolg, den eine vor ungefähr acht Jahren von mehreren amerikanischen Damen in Scene gesetzte Agitation - bestehend aus einer Serie von fünf Vorträgen weiblicher Aerzte, gehalten in vielen Städten der Union - in den Vereinigten Staaten erzielt hat. Der eine Verein heißt „National Dreß Society“, der andere „National Dreß Association“; beides heißt: „Gesellschaft für rationelle Kleidung“. Beide Vereine bezwecken, wie es in den Statuten heißt, „die Förderung der Annahme einer auf Rücksichten der Gesundheit, Bequemlichkeit und Schönheit beruhenden Kleiderordnung“; beide „mißbilligen die ewigen Modewandlungen“; beide wollen ihr Ziel durch Veranstaltung von Versammlungen, Vorträgen und Ausstellungen, durch Abfassung und Verbreitung von Anzeigen, Flugschriften etc., sowie durch die Ersinnung und den Verkauf von Papiermustern „rationeller“ Toiletten zu erreichen suchen: beide sind der Ansicht, daß jede richtige Reform eine Verbesserung sein sollte, statt der Thorheit, Trägheit, Unwissenheit und Laune einfach eine neue Abwechslung zu bieten; beide stimmen darin überein, „eine wirklich schöne Toilette lasse sich“ - wir citiren aus einer „Rationelle Kleidung und ihre Wirkungen“ betitelten englischen Broschüre der Mrs. E. M. King, Schriftführerin der „R. D. Association“ - „ohne das Behängen der Taille mit Vorhängen herstellen“; die Wohlgefälligkeit „hänge nicht ausschließlich davon ab, daß der Körper mit einer Menge Stoffs überladen werde, sondern sei auch mit der vollkommenen Entwickelung des Leibes, mit leichter Beweglichkeit und mit Elastizität vereinbar; die Welt müßte an ihren Schönheitsforderungen keine Einbuße erleiden und die Damen könnten dennoch eine gesunde und angenehme Tracht tragen“. Beide Vereine „protestiren gegen jede Mode, die die Gestalt verkrümmt, die freie Bewegung des Körpers hemmt und die Gesundheit schädigt, gegen Mieder, eng anliegende Kleider, enge Schuhe mit hohen Absätzen, schwere Unterröcke, allzu gewichtig aufgeputzte, überladene Schooßröcke, vulgäre, entstellende Crinolinen und Crinoletten“.
Man sollte glauben, daß es am besten wäre, wenn zwei so gleichgesinnte Vereine sich mit einander verschmelzen würden, um mit vereinten Kräften zu arbeiten; leider müssen wir bemerken, daß diese beiden Gesellschaften es umgekehrt gemacht haben: sie waren anfänglich eine Körperschaft; diese teilte sich erst später – vor einem halben Jahre – in zwei Gruppen. Den Anlaß zu dieser im Interesse der guten Sache bedauerlichen Spaltung gaben Meinungsverschiedenheiten über die Natur der anzustrebenden Reformen. Mrs. King war mit der Vicomtesse Harberton – der Präsidentin der jetzigen „Society“ – darüber einig, daß die üblichen Unterröcke abzuschaffen seien, daß kein Mieder getragen werden dürfe, daß die Wäsche nicht gebunden, sondern geknöpft werden sollte, daß die Fußbekleidung auf den Geboten der Hygiene beruhen müsse, daß das Gewicht und die Wärme der Kleidung gleichmäßig über den ganzen Körper zu vertheilen, kurz, die Damen waren über alles einig, nur nicht über den einen, allerdings sehr wichtigen Punkt: was an die Stelle der Unterröcke zu treten habe.
Lady Harberton befürwortet einen sogenannten „zweitheiligen Rock“, das heißt eine Art ungeheuer weiter Pluderhosen, über denen ein gewöhnliches (nur nicht zu bindendes, sondern zu knöpfendes) Ueberkeid zu tragen wäre, unter dem zwei bis drei Zoll der Hosen hervorgucken würden.
Mrs. King dagegen behauptet, das sei nicht radical genug; die Hosen dürfen nicht übermäßig weit sein, wenn sie nicht zu schwer sein sollen; die Beibehaltung des Schooßrockes würde das Uebel „Behinderung freier Bewegung“ fortbestehen lasten und das Princip, daß der Schooßrock nur zur „Zierde“ da sei, nicht zum Durchbruch bringen; vorderhand müsse man, um nicht durch Ueberstürzung alles zu verderben, mit geringen Anfängen einer Reform zufrieden sein, auf die Dauer aber müsse man weiter gehen – während Lady Harberton bei ihrem „Zweitheiligen“ stehen bleiben will –, und zwar werde es früher oder später zu einer Tracht kommen, bei der ein Mittelding zwischen türkischen Weiber- und abendländischen Männerhosen ohne darüber zu tragenden Schooßrock die Hauptrolle spielen dürfte.
Sollen sämmtliche Bedingungen einer gründlichen und nützlichen Reform erfüllt werden, so ist es allerdings kaum zweifelhaft, daß irgend eine Art von zweibeinigem Kleidungsstück die gestaltlosen Unterröcke wird ersetzen müssen, womit nicht gesagt ist, daß die Frauen Männerbeinkleider tragen werden oder sollen. Das Princip – Berücksichtigung des Körperbaus – ist freilich für Damen und Männer ein gemeinsames; aber der Schnitt und die Verzierungen können die Weiberhose vielfach von dem männlichen Beinkleid unterscheiden; das eigentliche Kleidungsstück soll permanent, die Draperie darf veränderlich – nur nicht schwer – sein. Ueber das Wie und Was der Reform herrscht noch keine Klarheit.
Um die Herbeiführung der letzteren zu fördern, sowie um dem Schneidergewerbe Veranlassung und Gelegenheit zu bieten, die Reformfrage aufzugreifen und an ihrem Fortschritt theilzunehmen – aus diesen Ursachen veranstaltete die King’sche „Association“ im Juni 1883 zu London eine „Ausstellung rationeller Kleidung“. Um die spröden Modistinnen anzulocken, wurde für geeignete Ausstellungsobjecte – das heißt „vernunftgemäße“ Muster von Zukunftsroben – eine Reihe von Geldpreisen ausgeschrieben. Die Betheiligung war denn auch eine recht lebhafte, seitens der Fachschneider sowohl als der Dilettanten im Publicum, und wir bemerken auf der recht interessanten Ausstellung manche sehr befriedigend entworfene Tracht nach dem löblichen Ideal der leitenden Reformatorinnen.
Eine Beschreibung dieser handgreiflichen Umwälzungsvorschläge oder Heilungssymptome wäre hier nicht am Platze; wir müssen uns mit der Bemerkung begnügen, daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß diese Ausstellung von prakischen Ergebnissen begleitet sein wird. Sie dürfte die Auffindung einer wirklich guten und schönen Zukunftstracht erleichtern; wenigstens aber hat sie das Gute zur Folge, daß die Presse und die weitesten Gesellschaftskreise auf die Bewegung aufmerksam geworden sind. Vorderhand haben die beiden Vereine schon den wichtigen Erfolg aufzuweisen, daß zahlreiche Modenfirmen sich bereit erklärt haben, die Schnittmuster der Reformatoren in ihren Schaufenstern auszustellen und darnach Roben anzufertigen, während früheren Bitten der Vereine nach dieser Richtung von keiner einzigen Firma entsprochen wurde.
Weitere Schritte sind geplant; Frau King beabsichtigt nämlich, eine der Bewegung zu widmende Monatsschrift herauszugeben, sowie in verschiedenen Provinzstädten Vorträge über die Anforderungen an rationelle Toiletten zu halten. Vorläufig, wie gesagt, will sie „nur langsam voran“; durch anfänglich kleine, dann immer größere Abweichungen von dem „alten Schlendrian“ will sie allmählich einen Kleidungsstil herbeiführen, „der unserer Person und unserer Lebensweise angepaßt sein soll“.
Es giebt noch eine dritte Gruppe von Reformfreundinnen: die Anhänger des „dem modernen Gebrauch angepaßten griechischen Gewandes“. Diese Gruppe, die allerdings keinen Verein gebildet hat und am untätigsten ist, wird von einer hervorragenden englischen Dichterin mit deutschem Namen geleitet: von Mrs. Emily Pfeiffer, die schon vor fünf Jahren über ihre Idee schrieb und neuerdings – im Juni dieses Jahres – eine vom Nationalen Gesundheitsverein veranstaltete Hygiene-Ausstellung beschickte; von ihr und zwei anderen Damen war da je ein sehr graziöses Kleid dieser Art zu sehen. Das Princip ist: ein ganz einfach gemachtes Kleid der sogenannten, allenthalben bekannten „Prinzessen“-Gattung – Leib und Schooß in Einem Stück – aus beliebig feinem oder ordinärem Stoff irgend welcher Art, und darüber eine in
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_511.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)