Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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„Und bei solcher Hitze!“ wurde von Rosa bestätigt.
„Es machte sich nicht gut auf andere Weise mit unserer Fahrt von Tölz, wo wir uns einige Wochen aufgehalten haben.“
„Aber übermorgen ist doch wieder eine Vorstellung,“ wagte Alfred zu erwähnen, bereute aber die voreilige Einwendung, als die Commerzienräthin mit unverkennbarem Mißfallen im Ton erwiderte:
„Halten Sie es für möglich, daß wir den heutigen Nachmittag unthätig in der Stadt zugebracht hätten, während hier der ‚Parsifal‘ in Scene geht? – Rosa, es ist Dir wirklich nicht gut, so viel zu trinken, nachdem Du den Tag über fast noch nichts gegessen hast, denn das Mittagsmahl hast Du ja kaum angerührt. Wahrhaftig, die Flaschen sind beide fast leer!“
„O, und mein Durst ist trotzdem noch nicht gestillt!“
„Werden die Damen in der nächsten Pause nicht soupiren?“ frug Alfred. „In diesem Falle wäre es gut, einen Tisch zu belegen und den Kellner zu instruiren.“
„Sie haben Recht, Herr Referendar. Werden wir auch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben?“
„Wenn Sie gestatten, gnädige Frau –“
„Gewiß, gewiß – sehr angenehm. Wir müssen Ihnen nur dankbar sein, daß Sie sich unser so freundlich annehmen, um so mehr, als wir vorläufig noch allein hier sind. Unsere Herren, mein Mann und ein Verwandter, kommen erst morgen an. – Aber horch! Das ist schon das Trompetensignal. Wir müssen eilen!“
Alfred bestand natürlich darauf, die Sorge für die Shawls und Hüte der Damen zu übernehmen, und nachdem er alles in der Garderobe abgeliefert hatte, mußte er sich schleunigst auf den Platz neben Rosa drängen, da schon das Gaslicht erlöschte und das Klopfen des Capellmeisters zur Stille ermahnte.
Die düster wogende Orchestereinleitung des zweiten Actes paßt durchaus nicht zu seiner befriedigt angeregten Stimmung, und mit einem kühnen Sprunge flieht sein Geist über die dämonischen Melodien, die auf und ab wogenden chromatischen Gänge, die schneidenden Wehlaute der Amfortas-Klage hinweg, nach dem eben verlassenen Restaurationszelte zurück, wo er in der Eile nochmals dem Kellner einschärft, das lauschige Eckplätzchen auf der Veranda um keinen Preis einer anderen Gesellschaft zu überlassen.
Selbst das Erscheinen Klingsor’s auf der Bühne und die grauenvolle Beschwörungsscene der Kundry vermögen nicht, ihn seinen privaten Gedanken zu entziehen. Erst die aufsteigende Pracht des Zaubergartens und die unwiderstehliche Anmuth der lockenden und kosenden Blumengestalten fesseln Blick und Ohr wieder so vollständig, daß er nur noch mit innerer Befriedigung die Bemerkung macht, wie Fräulein Rosa, wahrscheinlich auf seinen Rath hin, die Hand mit dem Opernglase gar nicht mehr erhebt.
Wäre es nicht so dunkel gewesen, so würde er wahrgenommen haben, daß tiefe Blässe das Antlitz seiner reglos sitzenden Nachbarin überzogen hatte, während die langen seidenen Wimpern sich immer tiefer über ihre Augen senken.
Das arme, ermüdete Kind sah und hörte bereits nichts mehr von Rosenmädchen und Schmeichelgesang, sondern kämpfte mit der drückenden Hitze in dem menschengefüllten Raum um sie her und der bleiernen Schwere, welche sich als Nachwirkung des rasch genossenen Weines über ihre Glieder legte, einen hoffnungslosen Kampf.
Ein Traum begann schon ihre Sinne mit der teuflischen Vorspiegelung zu umfangen, daß sie nicht hier, im Bühnentempel, im „Parsifal“, sondern zu Hause in dem jungfräulichen Schlafgemache weile, wo das kühle, weiche, spitzenbesetzte Kissen auf ihrem Lager sie mit magischer Gewalt zu sich herabzog. – Jetzt schlossen sich die Lider vollends, jetzt neigte sich ihr Körper, instinctiv den erträumten Ruheplatz suchend, zur Seite.
„Parsifal, bleibe!“ lockte unten aus Rosengebüschen Kundry’s Stimme mit schmeichelndem Wohllaut.
Da sank das Köpfchen Rosa’s in seliger Weltvergessenheit an die Brust des Referendarius Alfred Berger.
Es war so dunkel im Zuschauerraum, daß dieser die süße Last anfänglich nur fühlte. Glücklicher Weise gelang es ihm, eine rasche Bewegung des Erstaunens zu unterdrücken, die unfehlbar die Schlummernde wieder aufgeschreckt hätte. Nach und nach fing sein Blick an das Halbdunkel zu durchdringen, und er konnte deutlich die Umrisse des feinen Köpfchens mit dem im Nacken geschlungenen Goldhaar und den Löckchen an den Schläfen unterscheiden. Das Opernglas aus Elfenbein wurde nur noch lässig von der einen Hand gehalten und drohte, im nächsten Augenblick polternd zur Erde zu gleiten, wie Alfred mit Entsetzen entdeckte.
Seinen linken dem Störenfried nächsten Arm durfte er nicht bewegen, weil Rosa’s Schulter an demselben ruhte. Mit größter Vorsicht und Anstrengung gelang es ihm, den rechten Arm unvermerkt zu erheben und das Glas leise aus ihrer Hand zu nehmen, worauf er es, zu einstweiliger Unterbringung, in seine Rocktasche gleiten ließ. Kaum war dieses schwierige Geschäft unter ängstlicher Vermeidung aller unnöthigen Bewegungen ausgeführt, so zeigte sich, daß der Fächer in Rosa’s anderer lässig an der Seite herabhängenden Hand die gleiche erdbodensuchende Tendenz hatte, wie vorher das Opernglas.
Der Angstschweiß trat unserem Referendarius auf die Stirn, während er unter äußerster Anspannung seiner Muskeln auch diesen gefahrdrohenden Gegenstand glücklich mit den Fingerspitzen erfaßte.
Nun aber, nachdem auch der Fächer in die bergende Rocktasche gewandert war, konnte sich unser junger Freund mit Ruhe dem Genuß hingeben, den Schlummer seiner reizenden Nachbarin zu bewachen. Er empfand deutlich die sanften, gleichmäßigen Athemzüge, die ihre Brust hoben und senken, und ein ungenanntes, seliges Gefühl durchschauerte ihn.
Zum ersten Mal in seinem Leben überkam ihn die Ahnung und das Verlangen, wie süß es sein müsse, solch ein zartes, hingebendes Wesen sein Eigen nennen, es auf jedem Schritt hegen und pflegen zu dürfen. Mußte er sich auch vor jeder Bewegung hüten, so konnten doch seine Augen, die sich immer mehr gewöhnten, das Halbdunkel zu durchdringen, ungehindert hinunter schweifen auf das lockige Haar, das sich so weich um den schlanken Hals und das kleine reizende Ohr schmiegte, auf die mädchenhafte Gestalt, die mit Grazie und Nachlässigkeit an seiner Schulter lehnte. Er hätte ewig so verharren, ewig diese liebliche Rosenknospe schirmen und halten mögen mit seinem starken Mannesarm.
Und Parsifal? Und Kundry?
Für Alfred Berger waren sie und die übrige Welt augenblicklich im Nichts versunken. Zwar verschmolzen, ihm selbst unbewußt, die liebedurstigen Töne und Worte, in denen Kundry den reinen Jüngling zu umstricken sucht, mit seinen eigenen Träumereien, aber die Klänge kamen wie aus weiter, dämmernder Ferne an sein Ohr.
Erst als Parsifal–Winkelmann, durch den Liebeskuß der schönen Sünderin aufgeschreckt aus seiner knabenhaften Unschuld, plötzlich „wissend“ wird und mit voller Stimme einsetzend „Amfortas! Amfortas!“ ruft, wandte Alfred sein Auge erschrocken und indignirt dem Sänger zu, dessen ungebührlich laute Töne seine schöne Schläferin zu erwecken drohten. Zum Glück zeigten ihre ruhigen Athemzüge an, daß ihr Schlummer noch immer tief und fest sei. Aber Alfred sah jetzt mit Schmerz den Moment kommen, wo er selbst die Ursache ihres Erwachens werden mußte. Aus der Lectüre des Textbuches erinnert er sich, daß der Schluß des zweiten Actes herannahte, und er darf natürlich das Schließen des Vorhanges und das Hellwerden des Hauses nicht abwarten, ehe er sie stört.
Wahrhaftig, da versinkt schon der Zaubergarten Klingsor’s in die Tiefe! Könnte er doch mit versinken sammt seiner süßen Last!
Noch einen letzten Blick auf das holde Kind in seinem Arme – noch einen Athemzug, der ihn wonnig durchschauert – dann macht er plötzlich eine starke Bewegung mit dem linken Arme – und während er nun mit der rechten Hand krampfhaft das nach der Bühne gerichtete Opernglas vor die Augen hält, fühlt und sieht er, wie sie jäh in die Höhe schreckt und sich tiefaufathmend die Löckchen aus der Stirn streicht. Nun wendet sie den Kopf erstaunt nach seiner Seite, dann nach der Bühne, und jetzt – jetzt ist ihr offenbar das Bewußtsein von Zeit und Ort zurückgekehrt, denn mit einem heftigen Rucke legt sie die weiteste Entfernung zwischen sich und ihren Nachbar, die ihr momentan gestattet ist; das heißt, sie rückt auf dem schmalen Sitze, wie er dem Musentempel Richard Wagner’s leider eigen ist, um einige
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_483.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)