Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
|
No. 30. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Heiße Stunden.
Nach Wochen unaufhörlich strömenden Regens schien die langvertriebene Augustsonne endlich wieder einmal auf die kleine fränkische Stadt herab, in welcher der große Meister der Töne auf den Wink seines Taktstockes die motivbegierige Menschheit um den Gral versammelte. In den Bahnhof dieses modernen Olympia, der für solche eventuelle Völkerwanderungen in großstädtischer Weitläufigkeit und Eleganz errichtet ist, brauste soeben, mit der herkömmlichen königlich baierischen Gemüthlichkeitsverspätigung von einer guten halben Stunde, der von Neumark kommende Mittagszug ein, und Schaaren neuer Ankömmlinge entströmten aufathmend den sonnendurchglühten Coupes. Während ein Theil der Reisenden sich der vor dem Bahnhof harrenden stattlichen Anzahl von Droschken bemächtigte, eilten Andere vorerst in das wenige Schritte entfernt liegende Haus des Banquiers F., um da in dem „Bureau des Verwaltungsrathes“ den schuldigen Tribut von dreißig Mark zu entrichten und dagegen die Einlaßkarte für das Bühnenweihfestspiel einzutauschen.
Unter den Letztgenannten befand sich auch ein junger, etwa fünfundzwanzig Jahre zählender Mann von stattlicher Gestalt und frischen, einnehmenden Zügen. Sein Reisekofferchen in der einen, die errungenen Theater- und Quartierbillets in der anderen Hand, trat er als der letzten Einer wieder auf den inzwischen menschenleer gewordenen Bahnhofsplatz heraus, wo nur noch eine einzige Droschke melancholisch in der heißen Mittagssonne briet. Er hatte bereits das Gefährt erreicht, den eingeschlafenen Kutscher angerufen und den Schlag geöffnet, um sich und sein Kofferchen hineinzuschwingen, als von der anderen Seite her zwei Damen, gefolgt von einem schwerbeladenen Gepäckträger, auf den Wagen zugeeilt kamen.
„Ach, Mama, wie schrecklich! Dieser letzte Wagen ist schon besetzt,“ rief die Eine, Verzweiflung und Enttäuschung in der jugendlichen Stimme.
Die etwas corpulente Mama aber kam trotzdem vollends heran und sagte dann erst ungläubig, gedehnt: „So –?“ als der höfliche junge Mann, wie man von ihm nicht anders erwarten konnte, sein Kofferchen mit einem „Bitte, meine Damen,“ wieder zurückzog.
„Komm doch, Rosa!“ ermuthigte sie die zögernde Tochter, während sie sich bereits ganz bequem im Fond zurechtsetzte.
Einen Augenblick später rollten Beide davon, und der junge Mann, der grüßend seinen Hut zog, erhielt von der Mama ein gnädiges Lächeln, von dem blonden Töchterchen aber unter dem aufgespannten Sonnenschirm ein schüchternes „Danke sehr!“ und ein allerliebstes Kopfnicken zum Lohn dafür, daß er nun an der Seite des übriggebliebenen Gepäckträgers zu Fuß und im Schweiße seines Angesichts die Wohnung aufsuchen mußte, welche ein löbliches Bayreuther Wohnungscomité ihm gütigst angewiesen hatte. –
Zwei Stunden darauf sehen wir unsern jungen Reisenden die buntbelebte Straße hinauswandern, an deren Ende der weltberühmte Festtempel aus sanftgeschwungenen waldigen Hügeln und grünen Matten hervor winkt und lockt. Ein endloser Zug von Wagen aller Arten und Rangstufen bewegte sich in der Mitte der Straße, ein unabsehbares Gewimmel auf den Fußwegen zu beiden Seiten vorwärts.
Es ist Sonntag Nachmittag, und so sind in der Menge nicht nur die Fremden, die, festliche Spannung auf dem Gesicht, den kommenden Genüssen mit Ungeduld entgegen sehen, sondern auch die biedere Bevölkerung von Bayreuth, Alt und Jung, strömt neugierig mit hinaus, um wenigstens das bunte Schauspiel draußen, vor und zwischen dem „Bühnenspiel“, sich entfalten zu sehen.
Immer dichter wird der Menschenknäuel auf dem Festplatze, immer stärker der Andrang der Wagen – da schweben plötzlich feierlich-ernste Trompetenklänge über das Gewühl hin und laden zum Eintritt in die Hallen der Kunst. –
Es giebt bisweilen ebenso freundliche, als merkwürdige Zufälle in diesem Leben, wer wollte das leugnen? Just auf Reisen spielt der launische Glücksgott so manchen liebenswürdigen Streich, und Niemand wird daher besonders erstaunt sein, zu hören, daß unser junger Bekannter, den wir von jetzt an bei seinem Namen, Alfred Berger, nennen wollen, der Nachbar eben jener zwei Damen wurde, welchen er vor einigen Stunden einen kleinen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte.
Als er sich mühsam durch die enge Sitzreihe an denselben vorüberzwängte, um zu seinem Platz zu gelangen, erkannte er die junge Blondine sogleich wieder, obschon sie inzwischen den grauen Reise-Anzug mit einem zarten, rosenfarbenen Gewand vertauscht hatte, in welchem sie, wie Alfred Berger sich innerlich gestand, geradezu entzückend aussah.
Auch sie erkannte offenbar den jungen Mann, denn sie erwiderte seinen Gruß mit einem freundlichen Neigen ihres lockigen Blondköpfchens. Selbst die Mama blickte einen Moment grüßend von der Partitur des „Parsifal“ auf, in der sie gleich darauf eifrig weiter las und blätterte.
Während sich Alfred Berger, nicht unzufrieden über den angenehmen Zufall, den bevorstehenden Genüssen an der Seite einer so reizenden Nachbarin entgegen sehen zu dürfen, auf seinem
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_481.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2024)