Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Gründerin und Leiterin, Frau Lina Morgenstern, in ein Gespräch einließ, mehr um das buntfarbige Bild als um die Kost zu thun; wollte dieser Arzt und jener Vorstand einer großen Verpflegungsanstalt, welche die unermüdlich und unverdrossen Auskunft gebende Frau mit Fragen bestürmten, mehr ihre Wißbegierde stillen als für ihres Leibes Nothdurft sorgen: so war es doch der überwiegend größte Theil der Anwesenden, die der Wunsch nach Sättigung hergeführt.
Besucher der Ausstellung, den besten Gesellschaftskreisen angehörig, nahmen die Gelegenheit wahr, sich für beispiellos wenig Geld eine reiche schmackhafte Mahlzeit zu verschaffen, Beamte der Ausstellung, Mitglieder des zahlreichen Aufsichtspersonals der einzelnen Aussteller, die im Gebäude und im Garten beschäftigten Arbeiter, wer zählt, wer kennt sie Alle, die während der Zeit von ein bis drei Uhr täglich hier ihr Mittagsmahl nehmen, um alsdann schleunigst für Andere Platz zu machen. Der Raum, der gleichzeitig kaum fünfzig Speisende zu fassen vermag, wird jeden Tag von circa sechs- bis achthundert aufgesucht, die in der musterhaftesten Ordnung kommen und gehen.
Rechnet man die der Neu- oder Wißbegierde halber einmal eine Mahlzeit einnehmenden Besucher der Ausstellung ab, so sind die Gäste der Volksküche auf der Ausstellung im Großen und Ganzen dieselben, welche man in den Volksküchen in der Stadt, jetzt vierzehn an der Zahl, findet. In letzteren überwiegen die Arbeiter allerdings noch mehr als in der Ausstellung, dennoch wäre es unrichtig, zu glauben, daß diesen allein die Einrichtung zugute käme; auch der Stand der kleinen Beamten, der Handel- und Gewerbetreibenden, der Lehrenden etc. sendet in seinen männlichen und weiblichen Vertretern täglich zahlreiche Stammgäste in die Volksküche.
Die Physiognomie der Besucher und vielleicht ein etwas kleinerer Maßstab der Koch- und Speiseräume ist jedoch das Einzige, wodurch sich die Volksküche auf der Ausstellung von denen in der Stadt unterscheidet, sonst ist sie eine völlig getreue Nachbildung derselben. Hier sind die gleichen, als gut und praktisch erprobten Kochherde wie dort, die Kessel und Töpfe, die tiefen, inhaltreichen Näpfe, die hölzernen Stühle, Bänke und Tische, hier sind sogar die Sprüche an den Wänden, mit denen Frau Morgenstern alle jene Räume ausgeziert.
„Arbeit, Mäßigkeit und Ruh
Schließt dem Arzt die Thüre zu,“
liest man in schön verzierter Schrift – ein sehr geeignetes Motto für die Hygiene-Ausstellung.
Wie ihre Ausstattung, so giebt auch die Verwaltung ein getreues Bild des Geistes freier, werkthätiger Menschenliebe, aus welchem die Volksküchen im Jahre 1866 während ernster schwerer Zeit entstanden sind, in welchem sie sich fortentwickelt haben und eine Pflanzstätte ähnlicher Unternehmungen in allen größeren und mittleren Städten Deutschlands, in Oesterreich, Holland, Belgien, Rußland geworden sind.
Von den Damen des Centralvorstandes ist täglich eine zur Ueberwachung und Repräsentation anwesend, die Vorsteherinnen der vierzehn Küchen übernehmen der Reihe nach mit ihrem aus jüngeren Frauen und Mädchen bestehenden Hülfspersonal den freiwilligen Dienst in der Ausstellungsküche, und wahrlich, es heißt, sich hier tüchtig rühren, um die Speisen zu vertheilen, die in der durch eine Barrière vom Speiseraum geschiedenen Küche von dem Küchenpersonal bereitet, von der Wirtschafterin vorgelegt werden.
Neben der Küche befinden sich noch einige Gelasse zur Aufbewahrung von Vorräten und zum Reinigen des Geschirres, sowie ein kleines sehr einfach eingerichtetes Zimmer, in das sich die Vorstandsdamen zur Berathung und zu einer kurzen Rast zurückziehen können; ob ihnen aber für die letztere je schon Zeit geblieben ist oder jemals bleiben wird, möchte ich nach den bei wiederholten Besuchen gemachten Erfahrungen stark bezweifeln.
Es ist eine überaus anstrengende Thätigkeit, die diesen Damen zugemuthet wird, denn wenn auch die größte Lebhaftigkeit sich innerhalb der Speisestunden entfaltet, so nehmen die Vorbereitungen für das Mahl, so nimmt das Ordnen nach demselben eine ungleich größere Zeit in Anspruch; noch ehe die Ausstellung geöffnet wird, beginnt die Arbeit, und wenn Abends um sechs Uhr Besucher und Aufsichtspersonal in die Anlagen strömen, dann muß hinter den geschlossenen Schaltern der Volksküche noch überlegt, gesorgt, gerechnet werden für den nächsten Tag.
Und doch, was ist dieses Ueberlegen, Sorgen, Rechnen gegen die Mühen und Sorgen, unter welchen das segensreiche Unternehmen groß gezogen ward! Die Volksküche auf der Ausstellung giebt wohl ein treues Bild der Anstalten, wie sie jetzt sind, wie sie sich zum Segen für das Allgemeine, getragen von der Gunst der Wohldenkenden aller Parteien, als fester Bestand in unseren socialen Verhältnissen eingebürgert haben; aber wie sie geworden sind, das kann man nur an der Hand einer eingehenden Geschichte ihrer Entstehung, Bedeutung und Organisation erfahren, wie sie denn in der That auch von der Begründerin geschrieben worden ist.[1]
Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die Volksküchen, wie bereits erwähnt, im Jahre 1866 zunächst als ein Ergebniß der durch den ausbrechenden Krieg verursachten Noth in’s Leben traten und Gefahr liefen, mit dem Frieden, als für Friedenszeiten ungeeignet, wieder beseitigt zu werden. Der Energie und rastlosen Thätigkeit der Schöpferin dieses Institutes und eines Kreises von Frauen und Männern, die gleich ihr die eminente wirtschaftliche Bedeutung des Unternehmens erkannten, gelang es, diese Gefahr davon abzuwenden und es durch noch andere gefährliche Klippen und Brandungen zu steuern, bis es glücklich alle Kinderkrankheiten überwunden hatte und nicht allein selbsterhaltend dastand, sondern ein Vermögen erwarb und erwirbt, das es ermöglicht, immer neue Küchen zu eröffnen und es zu ertragen, wenn eine dieser Anlagen sich nicht als prosperirend erweisen sollte.
In den Jahren 1870 und 1871 entfaltete der „Verein der Berliner Volksküchen von 1866“, wie er sich nennt, eine großartige Wirksamkeit für die Verpflegung der Truppen auf dem Niederschlesischen Bahnhof, sein eigentlicher Schwerpunkt ruht aber doch in dem, was täglich durch seine Anstalten geschieht. In den Jahren 1866 und 1867 wurden in 4 Küchen 192,735 ganze und 351,404 halbe Portionen verabreicht, im Jahre 1882 lieferten 14 Küchen in Berlin 102,359 ganze und 1,252,629 halbe Portionen, wobei zu bemerken ist, daß davon noch eine größere Anzahl von Personen gespeist haben, da wohl selten Jemand im Stande sein dürfte, eine ganze Portion (à 30 Pfennig) zu vertilgen. Diese ganzen Portionen werden denn auch zumeist abgeholt und von den Betreffenden in ihrem Hause mit der Familie verzehrt, wogegen die halben Portionen zum allergrößten Theile in der Volksküche selbst verspeist werden.
Erst von der Einrichtung der dafür nothwendigen Räume, die getrennt für Frauen und Männer vorhanden sind, datirt der eigentliche Aufschwung der Volksküchen, denn erst damit war dem Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung Rechnung getragen. Als ein weiterer Beweis für die Richtigkeit und Nothwendigkeit dieser Maßregel ist es ferner anzusehen, daß Volksküchen nicht in den sogenannten Arbeitervierteln den größten Zuspruch haben, sondern in denjenigen Stadttheilen, nach denen die Leute sich zur Arbeit zu begeben pflegen, und wo sie alsdann auch gern Mittag halten.
Während eines sechszehnjährigen Bestehens haben die Berliner Volksküchen 28,520,399 Portionen geliefert. Welch eine Summe von freiwilliger Thätigkeit im Dienste der Humanität ist in diesen Zahlen enthalten, welch eine Summe von Gesundheit, Kraft und Wohlbehagen ist den ärmeren Schichten der Gesellschaft dadurch zugeführt worden, nicht als Almosen, sondern wohlerworben und bezahlt durch den Ertrag der eigenen Arbeit!
Die Jury der Hygiene-Ausstellung hat in Anerkennung der außerordentlichen Verdienste der Volksküchen um die gesunde Ernährung der Massen ihnen die goldene Medaille zuerkannt; Kaiserin Augusta, die eifrige Beschützerin aller Bestrebungen auf diesem Gebiete, wendet den Volksküchen ihre ganz besondere Theilnahme zu, besucht sie häufig, bescheidet die Vorsitzende und Begründerin zu sich und zeichnete sie beim Besuch der Ausstellung kürzlich noch aus.
Auch ist die goldene Medaille nicht der erste Preis, den die Volksküchen davon getragen; wo sie auf einer Ausstellung erschienen, ward auch ihr Werth anerkannt, und nicht lange wird es dauern, so wird die Einrichtung, je nach Erforderniß etwas verändert, aber in ihrer Grundform doch gleichbleibend, durch alle civilisirten Länder verbreitet sein. Ein schönes, erhebendes Zeugniß dessen, was geleistet werden kann, wenn sich Menschen,
- ↑ Die Volksküchen von Lina Morgenstern. Berlin, Stuhr’sche Buchhandlung, 1883.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_478.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2024)