Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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gute Pariser Sitte, von welcher das Publicum wie der dramatische Dichter den gleichen Vortheil hat. Das im Buchhandel erschienene Drama, das auf den Brettern gespielt wird, kann dadurch in den Besitz eines Jeden gelangen, welcher schon während der Aufführung sich die genauere Kenntniß des Stückes verschaffen oder nach derselben sich noch einmal in den Zusammenhang des Ganzen und die einzelnen Wendungen vertiefen will. Der Preis dieser Bücher ist durchaus kein geringer und nicht entfernt mit demjenigen zu vergleichen, mit welchem die Hefte der Reclam’schen Universalbibliothek bezahlt werden, die jetzt auch an manchen Theatercassen zum Verkauf ausliegen, wenn das Stück gegeben wird, das sie enthalten.
Während sich im Theater selbst ein lärmender Jahrmarkt entwickelt, geht ein großer Theil des Publicums in den Foyers spazieren. Nur das Foyer der Großen Oper macht indeß einen imposanten Eindruck; hier promenirt fast alles in Gesellschaftstoilette; Fracks und weiße Halsbinden trifft man öfter; obligatorisch ist aber in allen Foyers, auch der zweiten Theater, der Cylinderhut für die Herren. Dort baarhäuptig zu wandern, wäre ein Verstoß gegen die übliche Sitte.
Das Foyer des Théâtre Français besteht aus einer Reihe von Zimmern, die mit den Bildern und Statuetten schauspielerischer oder schriftstellerischer Berühmtheiten geschmückt sind. Auch in den andern Theatern sind es nur größere oder kleinere Salons, in denen man hin und her spaziert. So schöne große und geschmückte Rundgänge, wie das Foyer des Leipziger Stadttheaters, findet man dort nirgends. Dagegen können mit den großen prachtvollen Säulen-, und Spiegelhallen des Opernhauses nur die Wiener Oper und einigermaßen die Foyers in den großen Theatern von Dresden und Frankfurt a. M. concurriren.
An allen Pariser Theatern sind die ersten Aufführungen neuer Stücke am besuchtesten; das fashionable und urtheilsfähige Paris giebt sich hier ein Rendezvous. Ein solcher erster Abend gehört fast ganz den Autoren: sie vertheilen die große Mehrzahl der Billets selbst. Eine première ist stets ein Ereigniß; die Kritik bespricht nicht blos das Stück und die Schauspieler, sondern auch das Publicum. Im Ganzen ist die Kritik, neuen dramatischen Erzeugnissen gegenüber, bei weitem wohlwollender, als in Deutschland, wo oft verunglückte Dramatiker oder Schriftsteller aus den niederen Rängen der Literatur das große Wort führen. In den großen Theatern der deutschen Hauptstädte wird zwar eine première auch seitens des Publicums mehr beachtet; doch an mittleren Bühnen bewahrt dasselbe eine mehr abwartende Haltung; man ist da frei von jedem Ehrgeiz in Bezug auf literarische Dinge und schont sein Geld, bis die Kritik sich darüber ausgesprochen, ob das Stück wirklich sehenswerth sei.
Der Erfolg der ersten Aufführungen in Paris ist nicht vom Beifall der Claque abhängig, denn diese wohlorganisirte Claque thut immer gleichmäßig ihre Schuldigkeit. Die chevaliers du lustre, die Ritter des Kronleuchters, versammeln sich unter kundiger Führung; doch sie beschränken sich nicht auf enthusiastisches Beifallklatschen und auf die Ausbrüche lärmender Fröhlichkeit, durch welche sie das Publicum in die gleiche Stimmung zu versetzen suchen; sie gebieten über eine große Menge feinerer Kunstgriffe. Schon das Weinen ist schwieriger als das Lachen: der moucheur, der in Augenblicken der Erregung zum Schnupftuch greift, der sangloteur, der sich bei rührenden Situationen auf das Schluchzen versteht, das für zartbesaitete Gemüther eine unwiderstehliche Ansteckungsfähigkeit besitzt: das sind schon Claqueurs von feinerer Kunstbildung, die aus der Masse hervorragen.
Auch Frauen wirken mit, wenngleich nicht unter dem Kronleuchter; sie finden sich als Kränzewerferinnen auf den Gallerien ein, oder als pâmeuses in den Logen des ersten Ranges. Eine pâmeuse ist eine Jüngerin der Claque, welche die Verpflichtung übernommen hat, an geeigneter Stelle in Ohnmacht zu fallen. In dem interessanten Rodenberg’schen Skizzenbuche: „Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht“, wird eine ergötzliche Anekdote von einer solchen pâmeuse erzählt: Sie tritt als Zeugin vor Gericht auf und der Präsident fragt sie nach ihrem Beruf; sie antwortet: „je m’évanouis!“ („ich falle in Ohnmacht!“). Der Präsident ruft nach Wasser und läßt ihr einen Stuhl bringen. Sie trinkt und setzt sich. Nach längerer Pause wiederholt der Präsident die Frage nach ihrem Beruf; sie ertheilt dieselbe Antwort: „je m’évanouis!“ „Schon wieder?“ ruft der Präsident, auf’s Höchste erstaunt, bis ihn ein jüngerer Secretär über diesen Beruf der pâmeuses aufklärt.
Auch über ein anderes, höchst geniales Kunststück der Claque berichtet Rodenberg:
„Neulich wurde ein Stück zum ersten Mal gegeben. In einer Loge des Prosceniums hatte ein Vater mit seiner ganzen Familie, Frau, Töchter und Söhne, Platz genommen. Mitten im Act, bei einer anstößigen Stelle, erhebt sich der Vater sehr brüsk; er murmelt ziemlich laut, daß es empörend sei, dergleichen einer honneten Familie zu bieten. Geräuschvoll erheben sich die Frau, die Töchter, die Söhne: die Loge wird leer und bleibt leer. Alle Welt ist aufmerksam geworden und alle Blätter erzählen am andern Morgen, daß in dem und dem Theater eine neue Pièce zur Aufführung gekommen, welche so unanständig sei, daß mitten im Act ein Familienvater mit Frau, Töchtern und Söhnen sich gezwungen gesehen habe, das Theater zu verlassen. Das wirkte. Ganz Paris wollte das unanständige Stück sehen, und der Erfolg desselben war im voraus für hundert Abende gesichert.“
Wenn man von der Napoleonischen Kirche, der Madeleine, die Boulevards entlang geht, so öffnet sich zur Linken bald der Platz der Großen Oper, und dies Prachtgebäude mit seiner monumentalen Treppe, seinen drei mächtigen Portalen, der Loggia des Foyer, den Marmorgruppen der Seitenthore fesselt den Blick. Im Innern, im Treppenhause unter der Kuppel, steigen Marmortreppen mit dem carrarischen Geländer empor; es fesseln den Blick die Gänge des Treppenhauses mit ihren kleinen Balcons, und über der Haupttreppe hoch oben der sein Viergespann lenkende Neptun. Auch das Foyer schimmert von Gold und hat schöne Plafondbilder. Der Plafond des Zuschauerraums mit dem Stundentanz, und der prachtvolle Kronleuchter bilden einen seltenen Schmuck des Gebäudes. Und welche Dimensionen hat die Bühne!
Als ich im letzten Herbst in Paris war, sah ich den „Freischütz“ aufführen, nicht ohne einige bedenkliche Regiestriche, mit einer glänzenden, aber durchaus nicht stimmungsvollen Inscenirung. Das Wilde, Gespenstige der Wolfsschlucht kam weniger zur Geltung: freilich, es war wie ein verzauberter Wald, magische Gestalten überall, im Gebüsch, in den Wipfeln, an den Felswänden, eine Uebervölkerung mit traumhaften Bildern; doch es war dies mehr wie ein Feengarten, alles gebannt vom Zauber wie die Bilder eines Wachsfigurencabinets, nicht die wilden vom Sturm gescheuchten Gestalten.
Und fragt man überhaupt, welche künstlerische Perle in dieser prachtvollen Muschel sich findet, so kann die Antwort nur ein bedauerliches Achselzucken sein. Die Große Oper hat seit dem Bestehen des grandiosen Kunsttempels keinen einzigen Erfolg mit einer neuen Schöpfung aufzuweisen, ebenso wenig Künstler von phänomenaler Bedeutung. Sie lebt von den Reprisen der Meyerbeer’schen und Gounod’schen Opern. Nur einmal wagte sie es, eine Novität zu bringen, die „Jeanne d'Arc“ von Mermet, welche im Jahre 1877 über die Bühne ging, aber das Publicum in hohem Maße langweilte, trotz des patriotischen Stoffes oder vielleicht wegen desselben; denn im Opernhause will man keinen Patriotismus, da herrschen andere Götter. Eine große Rolle spielt hier das Ballet; aber zu voller Selbstständigkeit hat es sich auch hier nicht emporgerungen: es darf nie den Abend füllen. Sonst hat ihm die bildende Kunst, die das Opernhaus schmückte, zahlreiche Huldigungen zu Theil werden lassen. Die etwas kecke Tänzergruppe Carpeau’s am Eingange, die Bilder, in denen Boulanger die verschiedensten Tänze im Foyer de la danse, dieser glanzvollen großen Börse des Kunst- und Skandalgesprächs hinter den Coulissen, dargestellt hat, beweisen zur Genüge, daß Terpsichore hier eine bevorzugte Rolle spielt.
Weiterhin auf dem Boulevard steht das neue Theater de Vaudeville, das sich früher gegenüber der Börse befand. Es ist dies nächst dem Gymnasetheater die beste Vorschule für das Théâtre Français, eine vorzügliche Lustspielbühne: hier sind viele Stücke von Sardou zum ersten Male gegeben worden. Ich sah in diesem eleganten Schauspielhause ein höchst ergötzliches Stück: „Tête de linotte“, das unter dem Titel: „die Confusionsräthin“ am Wiener Stadttheater in Scene ging, ohne sonderlich zu gefallen. Es ist dies begreiflich, denn die Voraussetzungen der Handlung sind ganz aus dem Pariser Leben gegriffen und für ein deutsches Publicum etwas anstößig.
Auf dem Boulevard des Italiens hat sich ein neues Operettentheater
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_475.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)