Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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der Entartung und wurden zur verheerenden Landplage. Am ärgsten war dies der Fall in der Zeit nach dem demoralisierenden Dreißigjährigen Kriege. Dann war es besonders die Menge der vielen Territorialgrenzen, welche das freie Umherziehen ungemein begünstigte, weil es die Verfolgung erschwerte und unter Umständen den Uebertritt in’s andere Land sogar amtlich begünstigte.
So konnte man schon am Ausgange des Mittelalters von einer Bettlerzunft sprechen, die zwar keinen bestätigten Zunftbrief noch eine obrigkeitliche Matrikel besaß, gleichwohl aber in ihrer Verfassung und Gliederung dem Vorbilde der ordentlichen Handwerkszunft genau entsprach. Da gab es wie im Handwerk abgegrenzte Branchen. So unterschied man unmaskirte Bettler und maskirte oder freie Bettler. Zu diesen zählten die Steigbettler, welche mit wirklichen oder künstlich erzeugten Gebrechen auf das Mitleid zu wirken suchten. Unter diesen galten als besondere Art diejenigen, welche von Galgen und Rad die halbverwesten menschlichen Gliedmaßen stahlen und an den Kirchthüren und Stadtthoren sitzend sie als ihre eigenen vorzeigten. Die Butzschnurrer verstanden sich darauf, Unglücksfälle zu erdichten und sie mit kläglichem Antlitze von Haus zu Hans weiter zu verbreiten. Auch die Kaste der Stapler (Stabuler) war schon im fünfzehnten Jahrhunderte bekannt und hatte ihre Eintheilung in gemeine Stapler, Hochstapler und Reichsstapler. Die ersteren zogen unter der Maske von Pilgern, Wallfahrern, aus der Gefangenschaft befreiten Christensclaven umher, während die Hochstapler schon als größere Herren, asiatische Prinzen, Fürsten vom Libanon, vornehme Weltpriester, Officiere und Brandbettler auftraten. Der Besitz reichsfürstlicher Pässe machte sie zu Reichsstaplern. Sie hielten zu bestimmten Zeiten ihre Generalversammlungen, die „geistlichen“ zu Regensburg, die weltlichen zu Fürth.
Auch neuerdings noch cultivirt das Landstreicherthum gewisse Specialitäten. So haben es die Staudenbettler, deren hervorragendster sogar den Namen eines Staudenkönigs führt, darauf abgesehen, Stauden, das heißt Hemden zu betteln, indem die Vagabondensprache diesen Ausdruck für das betreffende Kleidungsstück führt. Der Staudenkönig würde es unter seither Würde halten, Geld zu betteln. Er befolgt dabei seine eigene Taktik. Will er, wie der technische Ausdruck lautet, „in’s Geschäft steigen“, so zieht er, sei es Winter oder Sommer, das Hemd aus und öffnet beim Eintritt in die Wohnung die bloße Brust. Diese drastische Berufung auf das Mitleid schlägt ihm selten fehl. Ein Mensch, der nicht einmal das Nothwendigste, nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe trägt, wie bejammernswerth ist derselbe, meint die gutherzige Hausfrau und öffnet mitleidig die Wäschtruhe. So bringt der geübte Staudenbettler bis zum Abend leicht ein halb Dutzend zusammen, und für Hemden finden sich leicht Käufer. Lachend über die leichte Täuschung eines Frauengemüths verjubelt er den Gewinn noch an dem Tage in Branntwein.
Ein Anderer hat sich den Beinamen „Allerweltskunde“ erworben, weil er, van Haus aus den besseren Ständen angehörend und nicht ohne Intelligenz, auf alle möglichen Geschäfte dressirt ist, welche heutzutage nach ihren Fachgenossen kleine Reisegeschenke zu geben pflegen. So ist er an einem Tage Kaufmann, Mechaniker, Uhrmacher, Klempner, Gürtler, Instrumentenmacher etc. Er führt auch für jedes Metier die passende Legitimation mit, denn er versteht sich trefflich auf das Graviren von Stempeln und die Veränderung seiner Handschrift.
Wieder ein Anderer läßt sich den „Hopfenkönig“ schelten. Er war früher Kaufmann, ist aber seit Jahren ohne Beschäftigung und geht jetzt regelmäßig jedes Jahr auf weiten Umwegen zur Hopfenernte nach Spalt in Baiern. Mit der Kundgebung dieses redlichen Zweckes ködert er überall das Mitleid.
Eine besondere Kategorie versteht sich darauf, „Fallen zu machen“, das heißt allerlei falsche Vorspiegelungen, Aufträge von Verwandten und Bekannten zu singiren, angebliche Verwandtschaften zu erklügeln, und was dergleichen mehr, um sich in das Vertrauen der Leute einzuschleichen.
Der reisende Kellner, der sehr oft in den reisenden Commis überspringt, sucht besonders durch Frechheit und ein dreistes Auftreten zu imponiren. – Vagabondirende Fleischergesellen reisen namentlich in katholischen Ländern gern als Scharfrichterknechte, vor denen die Leute auf dem Lande eine abergläubische Scheu haben.
Und mit der Furcht erzielt der Vagabond oft mehr, als mit dem Mitleid; daher lieben es die Stromer, besonders auf dem Lande, in ganzen Rotten aufzutreten, wobei zugleich, wie es in einer Polizeistatistik heißt, die Raffinirten die weniger Routinirten unter ihre Flügel nehmen.
„Die schlimmsten Vagabonden,“ heißt es in einer anderen statistischen Zusammenstellung über das Bettelwesen der Rheinprovinz, „sind die sogenannten ‚deutschen Zigeuner‘ (Korbflechter), welche in Karawanen umherziehen in Begleitung einer großen Anzahl unmündiger Kinder und liederlicher Weibspersonen. Mit der größten Frechheit werden die schlechten, von ihnen fabricirten Körbe und Anderes aufgedrungen und nebenbei die Kinder zum Betteln geschickt,“
Zu ihnen gesellen sich dann noch Besenbinder, Kessel- und Regenschirmflicker. Da sie oft Gefährt haben, so bezeichnet man sie wohl als das „Vagabondenthum im Reisewagen“. Mit dem von ihnen gelösten Gewerbescheine decken sie sich der Polizei gegenüber.
Denselben breiten Deckmantel der Bettelei bildet vielfach das Hausirgewerbe. So zieht der in der Vagabondenwelt bekannte „Wurzelfried“, von Haus aus Schneider, mit allerlei Wurzeln umher, die er den Landleuten als Mittel für Zahnschmerzen, Kopfreißen und vieles andere Gebreste verkauft. Ein Anderer bietet gelbe Seife als Arcanum gegen alles Mögliche aus, welcher er durch eine parfümirte Emballage aus Silberpapier eine besondere Anziehungskraft verleiht. Dabei ist es aber weit weniger auf den Absatz der Waare, als aus den Gewinn eines Zehrpfennigs abgesehen.
Eine gefährliche Gattung der Vagabonden sind die sogenannten „Macher“. Sie bauen ihre Pläne auf die Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit der Jugend und haben es daher vornehmlich abgesehen auf die jungen Handwerksburschen, die mit den Markstücken des Vaters im Beutel und den Segenssprüchen der Mutter im Herzen ihren ersten Wandergang machen. Es sind alte ausgediente Fechtbrüder. Sie reisen meist in Gruppen. Einer unter ihnen ist der Schlepper, der die Opfer aufspürt und zuführt. Ein Anderer spielt den Unparteiischen, der, wenn das „Geschäft gemacht“, das heißt das aufgespürte Muttersöhnchen, der „Affe“, gehörig bei Zeche und Spiel gerupft ist, das Opfer fortschafft („verschiebt“). Die Macher sind äußerlich nobel, sowohl in der Kleidung als im Auftreten, tragen Uhren und Ringe, wenn auch keine echten, und wissen durch Vorzeigen pappener Goldstücke und gefälschter Markscheine. in der Gaunersprache „Blüthen“ genannt, den noch unerfahrenen Wanderburschen zu imponiren.
Sie wissen sich auch der Polizei gegenüber gut zu stellen indem sie auf gute „Flaggen“ (Reisepapiere) halten, und haben besonders unter den Herbergswirthen Freunde und Helfer, da diese von ihnen bei der Ausbeutung ihrer Opfer den besten Vortheil haben.
Das durch das Zusammenleben genährte und erzogene Standesbewußtsein, sowie das durch korporatives Zusammenwirken geförderte Geschäftsinteresse haben dem Vagabondenthume schon früh zu einer Organisation verholfen, die wenigstens von den alten Fachmeistern festgehalten wird. Wenn da so ein Trupp dem anderen auf der Landstraße begegnet, begrüßen sie sich mit einem:
„Guten Tag!“
„Kunden?“ fragt dann der eine Theil.
„Kellner,“ entgegnet der andere Theil, und die Zugehörigkeit beider Theile zur großen reisenden Bettlerzunft ist damit festgestellt.
„Welche Religion?“ fragen sie sich dann gegenseitig und meinen damit, welches Geschäft Jeder treibe.
Da ist nun der Eine ein „Sonnenschmied“ (Klempner), der Andere ein „Elementarfärber“ (Brauer), der Dritte ein „Schwarzkünstler“ (Schornsteinfeger), viele Andere sind „Galgenposamentierer“ (Seiler), „Herumtreiber“ (Böttcher), „Fekläppchen“ (Tuchmacher), „Katzhoffer“ (Fleischers, „Licht- und Dichtmacher“ (Glaser) und „Piependreher“ (Cigarrenmacher), lauter Namen, bei denen der Humor Gevatter stand.
Nun folgt eine Ausfrage nach den Dörfern („Kaffs“) bis zur nächsten Stadt. Dann werden Erfahrungen ausgetauscht über die Orte und Distrikte, wo es „heiß“ ist, das heißt wo die Polizei sehr wachsam und scharf ist; ob die Stadt gut oder „warm“ ist;
ob die „Trauten“ (Meister) Geschenke geben; ob Ortsgeschenke
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_460.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)