Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Dieselbe wurde im Jahre 1876 eröffnet und hat eine Länge von fünfzehn Kilometern; sie ist ein Actienunternehmen und zwar ein recht kostspieliges, da beim Bau große Schwierigkeiten zu überwinden waren, sodaß sich auf der geringen Strecke mehrere Viaducte und Tunnel befinden, unter letzteren ein besonders interessanter; er ist durch den Marmor gesprengt, ohne jedes Mauerwerk. Dicht dabei befindet sich im Felsen ein halbkreisförmiger Ausschnitt antiken Ursprungs; ganz deutlich erkennt man die Stellen, wo der römische Sclave einst den Meißel ansetzte.
Die Bahn fuhr in die Thäler von Colonnata und Torano, die hauptsächlichsten Fundstätten des Marmors, und überschreitet dicht bei der Stadt Carrara den Bach Carrione, welcher das Thal von Torano durchfließt; in diesem Thale sind die bedeutendsten Gruben, und daselbst wird der reinste Marmor gefunden. Dort, wo der Bach Carrione in’s Meer mündet, befindet sich die Marina di Avenza, wo der Marmor, welcher über See befördert werden soll, verladen wird. Zwei mächtige Docks sind zu diesem Zwecke, das eine von Engländern, das andere von Einheimischen, erbaut worden; beide sind mit doppelten Geleisen versehen und ragen fast bis dreihundert Meter in’s Meer hinein. An schönen Tagen liegen immer eine Menge Schiffe bereit, die kostbare Ladung aufzunehmen, und ein reges Leben entfaltet sich am Strande, wo die ausgedehnten Depots für Marmor durchschnittlich einen Werth von mehreren Millionen Franken in sich bergen
Vom Meeresufer bietet sich ein prächtiges Panorama dem Auge dar; während sich nach Süden zu das Mittelmeer in schimmerndem Blau ausdehnt, wird der Norden vom mächtigen Gebirgskamme der Apenninen begrenzt, über welchen hinaus viele Bergspitzen gen Himmel ragen; die höchste derselben, der über 5000 Fuß hohe Monte Sagro, ist mit seinen weiß glänzenden Flecken den Schiffern ein weithin sichtbares Wahrzeichen.
Die Landstraße nach Carrara ist in ihrer ganzen Länge von einer starken halben Stunde trotz des Bestehens der Eisenbahn außerordentlich belebt von Fuhrwerken aller Art. Den bei Weitem überwiegenden Theil derselben bilden die Karren für Beförderung der Marmorblöcke, meist mit nur zwei plump, doch überaus dauerhaft gearbeiteten Rädern versehen und mit den breitgehörnten grauen Stieren bespannt. Die kolossalen Lasten haben der Straße tiefe Spuren eingedruckt, und ihr Zustand erscheint durch den ununterbrochenen Verkehr dieser schwerbeladenen Karren trotz fortwährender kostspieliger Reparaturen doch als ziemlich verwahrlost.
Die Stadt Carrara liegt auf klassischem Boden, ihre Gefilde waren schon zu einer Zeit der Cultur erschlossen, als die Gründung Roms noch in weiter Ferne lag. Nicht ganz eine deutsche Meile von Carrara entfernt befinden sich nicht weit von der Landstraße und nahe dem Meere die Ueberreste der uralten Stadt Luna, bei den Griechen Selene, jetzt Luni genannt, wonach noch heutzutage die ganze Landschaft den Namen „La Lunigiana“ trägt.
Die Stadt Carrara zählt mit ihren Vorstädten etwa 27,000 Einwohner, welche zum größten Theile von der in bestem Fortschritte befindlichen Marmorindustrie leben.
Sehr interessant sind einige alte Häuser aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert in Via Finelli und anderen Straßen, nach damaliger Manier an Thür und Fenstern mit zierlichen Säulchen geschmückt; so das Gebäude, welches Michel Angelo bei seinen wiederholten Besuchen zu Ende des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts beherbergte; der Dom, im gothischen Stile des dreizehnten Jahrhunderts erbaut, steht unter dem Schutze des Staates, der jährlich zur Unterhaltung und Restauration desselben beisteuert; von modernen Bauten sind erwähnenswerth einige Privatgebäude und das zwar kleine, doch geschmackvolle Theater. Die Hauptplätze der Stadt sind mit Statuen geschmückt, so steht auf Piazza Alberica das Monument der Maria Beatrice d’Este und auf Piazza del Duomo die Statue des Andrea Doria. Die Akademie der schönen Künste enthält viele Gypsabgüsse klassischer Werke und zu Luna gefundene Römerarbeiten; zu ihren Ehrenprofessoren gehörten unter Anderen Rauch und Thorwaldsen. Eine Menge Bildhauerwerkstätten sind des Besuches werth, zum Beispiel diejenigen der Professoren Lazzerini, Carusi, Bacca und vieler Anderer, wo fleißige Hände fortwährend Meißel und Hammer führen und die reizendsten Kunstwerke
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_456.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)