Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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„So sehen Sie nach und lassen Sie es augenblicklich hierher bringen. Eilen Sie!“
Feldberg eilte davon, nach der Meierei, die, gleichfalls auf der Höhe gelegen, von der Fluth unberührt geblieben war, aber Rainer meinte bedenklich:
„Das wird nichts nützen, solange das Wasser noch so wild ist. Schauen Sie nur, wie das reißt und strudelt! Ich möchte Den sehen, welcher sich da hinauswagt, er kommt nicht lebendig zurück.“
Werdenfels erwiderte nichts, aber sein Blick begegnete wie unwillkürlich dem des Pfarrers. Es war eine stumme Frage und eine ebenso stumme Antwort, aber die beiden Männer verstanden sich. Der Freiherr wandte sich ab und sagte ruhig:
„Das wird sich finden, wenn nur erst das Boot da ist.“
Aber auch Anna hatte jenen Blick gesehen und verstanden. Als Raimund gleich darauf zu ihr trat, ergriff sie mit krampfhafter Heftigkeit seinen Arm und zog ihn bei Seite.
„Was willst Du thun?“ fragte sie athemlos und gepreßt.
„Anna, höre mich!“ begann er, aber diesen angstvoll flehenden Augen gegenüber hielt sein Entschluß nicht Stand, er verstummte mitten in der Rede.
„Was willst Du thun?“ wiederholte die junge Frau dringender. „Dich in die Todesgefahr werfen und mich der Todesangst preisgeben? Hast Du nicht schon genug Opfer gebracht? Da stehen mehr als hundert, die Du gerettet hast, laß sie die Hülfe bringen.“
„Von Denen wagt es kein Einziger, außer vielleicht –“
„Gregor! Ich weiß es, ich sah es an seinem Auge. So laß ihn allein die Rettung versuchen; er hat zu sühnen, und er wird es thun.“
„Habe ich nicht zu sühnen?“ fragte Raimund so leise, daß nur sie allein ihn verstehen konnte. „Denke an jene Stunde in Felseneck, wo ich Dir die Vergangenheit enthüllte. Eckfried’s Hof wurde das erste Opfer der Flammen und sein einziger Sohn wurde todt aus den Trümmern hervorgezogen. Jetzt ist sein Enkel dort drüben, das Einzige, was der alte Mann noch besitzt, das Einzige, woran er hängt, und ich bin ihm ein Leben schuldig. Laß mich auch den letzten Schatten bannen, der noch aus der Vergangenheit herüberdroht! Du weißt es, ich bin damals in Venedig oft genug allein vom Lido hinausgefahren in die hochgehende See und bin vertraut mit dem Steuer und mit den Wellen.“
„Die See war nicht so gefährlich wie diese reißende Strömung und die Trümmer, die sie mit sich führt. Soll ich Dich darin begraben sehen? Bleibe zurück, Raimund! Du wirst nicht gehen, wenn ich Dich bitte, wenn ich Dich anflehe, zu bleiben.“
„Wenn Du es verlangst, bleibe ich, aber meine Anna wird das nicht von mir fordern.“
„Doch, ich fordere es!“ sagte die junge Frau mit verzweiflungsvoller Energie. „Ich habe auch ein Recht auf Dein Leben, es gehört jetzt mir, und ich will es nicht verlieren.“
Die Rückkehr Feldberg’s unterbrach das Gespräch, er meldete, daß das Boot in einem Schuppen der Meierei gefunden sei, und gleich darauf wurde es auch zur Stelle gebracht. Es war ein kleines, zierliches Fahrzeug, nur dazu bestimmt, auf dem stillen, sicheren Schloßteiche umherzurudern, und wenig geeignet für eine gefahrvolle und ernste Fahrt.
„Das geht nun und nimmermehr!“ sagte Paul. „Das gebrechliche Ding hält ja den Wellen nicht Stand, der erste Baumstamm, der dagegen anprallt, bohrt es in den Grund. Gieb den Gedanken auf, Raimund! Es wäre eine Tollkühnheit, sich mit diesem Fahrzeug hinauszuwagen, und es ist eine Unmöglichkeit, damit zurückzukehren.“
Die Bauern, die sich um das Boot drängten, waren einstimmig der Meinung des jungen Baron. Es blieb nichts anderes übrig, man mußte auf das Floß zurückkommen und bis zum nächsten Morgen warten. Vielleicht stand dann das Fischerhaus noch, einstweilen mochte der Himmel den Bewohnern gnädig sein.
Da machte sich Eckfried mit wankenden Schritten Bahn durch die Menge.
„Wenn es Keiner wagt, ich thu es!“ brachte er mühsam hervor. „Laßt mich hinüber, ich will’s versuchen!“
„Bist Du denn toll, Alter?“ rief Rainer in seiner derben Weise, indem er ihn zurückzog. „Kannst Dich kaum auf den Füßen halten, kannst kein Ruder heben und willst ein Boot führen! Dazu gehören andere Kräfte.“
Eckfried hielt sich in der That kaum aufrecht. Er fühlte selbst seine Ohnmacht, und die Kraft, die ihm die Verzweiflung gegeben, erlosch so schnell, als sie aufflackerte. Mit gerungenen Händen blickte er hülfesuchend im Kreise umher, aber Niemand gab ihm Trost.
Vilmut war zuerst an das Boot getreten und hatte es schweigend, aber sorgfältig untersucht, jetzt war er damit zu Ende und sich aufrichtend, sagte er in dem alten befehlenden Tone:
„Weiß Einer von Euch das Steuer zu führen? Die Ruder nehme ich auf mich.“
„Sie, Hochwürden?“ rief Rainer zurückprallend. „Sie wollten selbst – nein, das geht nimmer!“
„Es muß gehen!“ war die kalte, entschlossene Antwort. „Ich habe als Knabe bisweilen das Ruder geführt und etwas wird wohl davon noch übrig geblieben sein. Aber um das Steuer handelt es sich. Ist Niemand unter Euch, der das auf sich nehmen kann und will?“
Allgemeines Schweigen folgte der wiederholten Frage. Die Gebirgsbewohner wußten mit dem Stutzen umzugehen, ein Boot zu lenken hatten sie nicht gelernt. Sie blickten mit einem förmlichen Entsetzen auf ihren Pfarrer, der sich auf das tückische Element wagen wollte, das ihnen eben noch Verderben gedroht hatte, aber kein Einziger machte Miene, seinem Beispiel zu folgen.
„Du siehst, Anna, es findet sich Niemand!“ sagte der Freiherr halblaut. „Hältst Du mich noch zurück?“
„Um Gotteswillen, was hast Du vor?“ fiel Paul ein, der die Worte gehört hatte. „Du willst Dich doch nicht etwa selbst hinauswagen? Dulden Sie das nicht, gnädige Frau, halten Sie ihn zurück. Er ist ja kaum genesen!“
Anna gab keine Antwort. Sie hatte Raimund vorhin selbst zur Rettung angetrieben, aber jetzt hielt sie mit beiden Händen seinen Arm umfaßt und wollte ihn nicht von sich lassen. Sie hatte ja nicht geglaubt, daß es sich hier für ihn um Leben und Tod handeln werde.
„Ich gebe es nicht zu,“ fuhr Paul fort. „Eher steige ich selbst in das Boot und versuche –“
Weiter kam er nicht, denn Lily schrie laut auf vor Entsetzen und ihn umklammernd, versicherte sie hoch und theuer, sie werde vor Angst sterben, wenn er sie jetzt verlasse.
„Du bleibst, Paul,“ sagte Werdenfels mit ruhiger Bestimmtheit. „Sieh auf Deine Braut, Du hast vor Allem an sie zu denken!“
„Und Du?“ fragte der junge Mann vorwurfsvoll. „Bist Du nicht in dem gleichen Falle?“
„Ich?“ In Raimund’s Augen erschien wieder jenes sonnige, blitzähnliche Leuchten. „Ich will mir meine Braut und mein Glück mit dieser Fahrt verdienen! Anna – forderst Du wirklich, daß ich bleibe?“
Der Blick der jungen Frau irrte über die schäumende Wasserfläche und schweifte dann hinüber nach jener Stelle, wo drei Menschen in Todesangst auf Rettung harrten; langsam, wie einer höheren Gewalt weichend, gab sie Raimund’s Arm frei und mit bebenden Lippen flüsterte sie:
„Geh – Gott wird ja barmherzig sein!“
„Dank!“ sagte Werdenfels leise und innig und trat dann rasch in den Kreis der Bauern.
„Schafft das Boot hinunter in das Wasser!“ befahl er. „Ich werde das Steuer führen.“
Einen Augenblick lang standen die Leute in sprachloser Ueberraschung, dann erfolgte allgemeiner stürmischer Protest. Sie wollten weder ihren Gutsherrn noch ihren Pfarrer in die Gefahr hinauslassen, und von allen Seiten wurden Bitten und Warnungen laut, aber Vilmut schnitt ihnen das Wort ab:
„Wir haben keine Minute zu verlieren. Schafft das Boot hinunter! Wenn Sie bereit sind, Herr von Werdenfels – ich bin es auch.“
Die Leute sahen ein, daß jeder fernere Widerstand vergeblich war. Zwölf kräftige Arme ergriffen das Boot, und in wenigen Minuten lag es auf dem Wasser. Vilmut war im Begriff, seinen Platz einzunehmen, da im letzten Augenblick trat Rainer vor.
„Nehmen Sie mich mit, Hochwürden!“ sagte er kurz entschlossen. „Ich hab’ ein Paar tüchtige Arme und die können Sie brauchen. Sie und der Freiherr zwingen es nicht allein.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_451.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)