Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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dem allen ein Schutzwall improvisirt, um wenigstens die am meisten bedrohten Uferstellen zu sichern, aber vergebens. Wie ein nimmersattes Raubthier verschlang die Fluth alles, was ihr wehren sollte, und brüllte nur um so lauter nach ihrem Raub.
Mehr als zwölf Stunden hatten die Dorfbewohner muthig ausgeharrt bei den Rettungsarbeiten, jetzt aber sanken ihnen mit der Hoffnung auch Muth und Kraft und mit der höher steigenden Flut rückte das Verderben immer näher. Nur Einer konnte und wollte noch immer nicht an das Unabwendbare glauben – der Pfarrer.
Er war der Erste am Platze gewesen, als die Gefahr hereinbrach, und wich und wankte nicht von den bedrohten Punkten. Wenn die Kräftigsten erschöpft zusammenbrachen und einander ablösen mußten, schien er allein keine Ermüdung zu kennen, keiner Erholung zu bedürfen. Er setzte seine ganze Autorität ein, um die Leute, die anfangs in kopfloser Angst durcheinander rannten, zur Ordnung und zur planmäßigen Arbeit zu zwingen. Er befahl, ordnete, feuerte an, wo es noth that, und man gehorchte ihm auch, aber es war nicht mehr der alte Gehorsam, nicht mehr die einstige ehrfurchtsvolle Unterordnung unter seinen Willen.
Die Leute waren irre geworden an ihrem Priester. Er hatte es ihnen feierlich zugesagt, das Unglück werde nicht kommen, wenn sie nur vertrauten, und sie glaubten seinen Worten wie dem Evangelium selbst – und nun kam das Unglück doch! Der Felsenecker hatte Recht gehabt, als er sie davor schützen wollte, und der Pfarrer, der das nicht duldete, war schuld an ihrem Verderben.
Vilmut fühlte dies Urtheil, wenn auch kein Wort des Vorwurfs gegen ihn laut wurde. Er las es in den finsteren Blicken, in dem grollenden Schweigen der Männer, er hörte es in den lauten Jammerrufen, mit denen man die schützenden Dämme herbeiwünschte und die eigene Verblendung beklagte, und er wußte doch am besten, daß die ganze Gemeinde nur ein willenloses Werkzeug in seiner Hand gewesen war.
„Wo Menschenarme den Elementen wehren können, da heißt es Gott herausfordern, wenn man diese Arme zurückhält, und das hast Du gethan!“
Diese Worte, die Anna ihm einst zugerufen, hallten jetzt fort und fort in Gregor’s Seele wider. Er stand fest und aufrecht wie sonst und zeigte die gewohnte Selbstbeherrschung, aber die Todtenblässe seiner Züge, die erloschene klanglose Stimme verriethen, wie es in seinem Inneren aussah.
Er hatte Wind gesäet, er erntete jetzt Sturm, und die Hunderte, deren Wohl und Wehe er vermessen auf sich genommen, aus Haß gegen einen Einzigen, sie forderten jetzt ihre Rettung von ihm.
Der Priester wagte es nicht mehr, sie auf den Schutz des Himmels zu verweisen, wie es sein Amt gebot, denn er wagte selbst nicht mehr, diesem Schutze zu vertrauen – er fühlte das nahende Strafgericht.
In der allgemeinen Aufregung war das Erscheinen des jungen Baron Werdenfels kaum bemerkt worden, und er fand auch keine Gelegenheit mehr zum Eingreifen. Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit dem Gemeindevorsteher, der zaghaft fragte, ob im schlimmsten Falle die obdachlos Gewordenen eine Zuflucht im Schlosse finden würden. Paul sagte das im Namen seines Onkels zu und sandte sofort einen Boten hinauf zu Raimund, er selbst aber blieb und sah mit beklommenem Herzen den letzten ohnmächtigen Anstrengungen zu, mit denen Werdenfels um seine Existenz rang.
„Es geht nicht länger!“ sagte Rainer, indem er die Arme sinken ließ. „Wir zwingen es nicht. Laßt uns wenigstens das Vieh retten und was wir sonst fortbringen können, so lange die Häuser noch stehen. Kommt!“
Er warf die Schaufel hin, mit der er bisher gearbeitet hatte, und wandte sich zum Gehen, aber Vilmut vertrat ihm den Weg.
„Bleibt!“ rief er halb befehlend, halb bittend und mit fliegendem Athem. „Wir dürfen nicht weichen, dürfen das Dorf nicht preisgeben! Verliert den Muth nicht, dann wird und muß die Rettung noch möglich sein.“
Rainer lachte bitter auf.
„Da müßt’ ein Wunder geschehen. Und wenn wir darauf warten wollen, gehen wir vollends zu Grund. – Da geht der Wall hin, an dem wir so lange gebaut haben, nichts hält mehr!“
Er hatte Recht, soeben wich das Erdreich an der bedrohten Uferstelle und riß die Schutzwehr, die man mühsam geschaffen, mit sich in die Tiefe. Polternd stürzten die Baumstämme zusammen, und die Fluth trieb ihr Spiel mit den schweren Feldsteinen, als seien es leichte Kiesel.
Vilmut ergriff die Schaufel, die der Bauer von sich geworfen hatte, und gab selbst das Beispiel zur Fortsetzung der Arbeit.
„Schließt den Bruch!“ rief er wie außer sich. „Haltet aus, um Gotteswillen! Wenn das Wasser hier hereinbricht, ist das Dorf verloren!“
„Nun Hochwürden, Sie verlieren ja nichts dabei!“ sagte Rainer mit herbem Vorwurf. „Ihr Pfarrhaus wird wieder aufgebaut von der Regierung oder von dem Felsenecker, denn einen Pfarrer muß er ja doch in Werdenfels haben. Aber unsere Häuser, die wird er nicht wieder aufrichten, wir müssen uns selbst helfen. Hätten wir es nur damals gethan, als er uns die Dämme bauen wollte, aber da trauten wir Ihnen – und jetzt müssen wir es büßen!“
Es war der erste Vorwurf, der sich gegen den Pfarrer erhob, aber es bedurfte nur dieses ersten Wortes, um all den Groll zu entfesseln, der schon seit Stunden in den verzweifelten Menschen wüthete. Klagen, Vorwürfe, selbst vereinzelte Drohungen wurden laut: das Unglück löste die Bande des Gehorsams, der langgewohnten Ehrfurcht, im Angesichte der Gefahr lernten die Leute urtheilen, sie forderten zum ersten Male Rechenschaft von ihrem Priester, dem sie bisher blindlings vertraut hatten.
Vilmut machte noch einen letzten Versuch, die Männer zum Bleiben und Ausharren zu bewegen. Seine ganze Energie flammte wieder empor, als er sich den Weichenden in den Weg warf und abwechselnd befahl und beschwor, aber vergebens. Seine Stimme und seine Worte, die sonst das Orakel des Dorfes waren, verhallten jetzt ungehört. Die Leute folgten sämmtlich dem Beispiele Rainer’s, sie warfen die Werkzeuge hin und stürzten fort, um wenigstens einen Theil ihrer Habe noch zu retten.
Gregor blieb allein zurück. Er sah das hereinbrechende Verderben, er hörte die Rufe der fliehenden Menge, die ihn als ihren Verderber anklagte. Zu seinen Füßen zischte die Fluth, sie züngelte immer weiter hinein in das geborstene Ufer und riß Scholle auf Scholle von dem wankenden Boden, es wehrte ihr ja Niemand mehr. Und dabei stürmten fort und fort die Glocken und alle Dörfer in der Runde gaben das Nothzeichen schauerlich zurück.
Da endlich versagte die eiserne Kraft des Mannes, die ihn bisher aufrecht erhalten hatte. Er sank auf die Kniee nieder und streckte die krampfhaft gefalteten Hände zum Himmel empor und wie ein Aufschrei der Todesangst brach es aus seiner Brust hervor:
„Gott im Himmel, laß es die Unglücklichen nicht büßen, was ich verschuldete! Nimm mein Leben, wirf mich der Fluth zum Opfer hin, aber rette das Dorf, rette die Menschen, ich ertrage es nicht, sie vor meinen Augen verderben zu sehen. Thue ein Wunder und sende uns einen Retter, einen Helfer in unserer Noth!“
Aber nur der Regen strömte nieder von dem schwer bewölkten Himmel, nur das Toben des Stromes gab die Antwort auf das Gebet der Verzweiflung, und dazwischen tönten die Angstrufe und der Jammer der Flüchtenden, die schon auf dem Wege zum Dorfe waren.
Da auf einmal verstummten jene Rufe, die Flucht stockte plötzlich, die wildbewegte Menge stand wie festgebannt, sie erkannte den Freiherrn von Werdenfels, der ihr am Eingange des Dorfes entgegentrat, und an seiner Seite Frau von Hertenstein.
Raimund’s Erscheinung wirkte selbst in diesem Augenblicke, wo alle Bande der Ordnung sich lösten, ja vielleicht wirkte sie gerade deshalb am meisten. Da stand der Felsenecker, der das Dorf hatte retten wollen, und dem man dafür mit dem Sturze gelohnt hatte, dessen Mal er noch auf der Stirn trug. Kam er, um sich zu weiden an dem Unglück? War es vielleicht seine Rache, die es heraufbeschworen hatte, oder – kam er, um zu retten? Einen Moment lang verharrte Alles in athemlosem Schweigen.
„Zurück!“ rief der Freiherr mit jener vollen, mächtigen Stimme, die man nur zu gut von der letzten Begegnung her kannte.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_431.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)